nd-aktuell.de / 22.07.1995 / Kommentare / Seite 13

Die Geige von Sherlock Holmes

Kunst als Waffe oder als Lockerungsübung für kriminalistische Kopfarbeit? Das ist im Falle des geigenden Detektivs Sherlock Holmes die lange vernachlässigte Frage. Zu ihrer Beantwortung ließ sich unser Essayist auch durch das Holmes-Porträt von Klaus Ensikat auf dem Umschlag dieses Buchs vom Verlag Das Neue Berlin (1986) anregen

musikalische Arzt für „Lieder von Mendelssohn“ hält, während es in Wirklichkeit doch eher die Schlager von Arthur Sullivan gewesen sein dürften. So musikalisch geht es noch in der „Studie in Scharlachrot“ zu. Später ertönt kein einziger Geigenton mehr in den Erzählungen, ob in den „Tanzenden Männchen“, dem „Verschwinden der Lady Carfax“ oder dem „Teufelsfuß“ Wahrscheinlich hatte Watson immer schon das Haus verlassen und war bereits auf der Flucht, ehe Holmes zur Geige griff.

Auch Holmes selbst spricht auffallend wenig von seinen musikalischen Interessen. Auf den vielen tausend Seiten seiner Abenteuer tritt nur ein einziges Mal eine namhafte Geigerin auf, eine, die tatsächlich beim Namen genannt wird. Es ist „Lady Norman-Neruda“ Sie ist in dieser fiktiven Welt rätselvoller Verbrechen wahrscheinlich der einzige Mensch, der wirklich existiert hat. In Wirklichkeit hieß sie Wilma Franziska Neruda. Sie entstammte einer böhmischen Musikerfamilie und wurde 1838 in Brno geboren. Als sie 1911 starb, hatte sie den Zenit ihres Ruhms längst überschritten, und kaum einer erinnerte sich noch ihrer großen Tage. Aber in den 80er Jahren, als Arthur Conan Doyle seine Schriftstellerlaufbahn begann, galt sie.in^London^s die. iJt Geigenfee“ und der „weibliche Paganini“ Kein Geringerer als Hans von Bülow verlieh ihr diese ehrenvollen Titel. In London wirkte sie seit 1864, wo sie auch den schwedischen Komponisten Ludvig Norman heiratete und fortan einen Doppelnamen führte, den sie auch beibehielt, als sie sich fünf Jahre später wieder von ihm trennte. Arthur Conan Doyle könnte von Kindheit an ihr Verehrer, möglicherweise sogar ihr Schüler gewesen sein. Erzogen war diese Geigerin in der Mendelssohnschen Tradition, sie liebte Spohr und Brahms und verabscheute Wagner, was ihr den Spott des enthusiastischen Wagnerianers George Bernärd Shaw eintrug. In einer seiner“ Kritiken im Londoner „Star“ erinnerte er sie wenig gentlemanlike an ihr Alter, als sie die Fünfzig bereits überschritten hatte, und setzte sie ironisch gegen das junge belgische Geigen-Genie Eugene Ysaye herab. Als sie am 4. März 1881 im Londoner Kristall-Palast ein Violinkonzert von Louis Spohr vortrug, befand Bernard Shaw-„Ich hörte sie vor zwölf Jahren dasselbe Konzert so vollendet spielen, daß es ungerecht gegen sie wäre, wollte ich behaupten, sie wäre damals nicht

besser gewesen als heute.' Watson erwähnt in der „Studie in Scharlachrot“, daß Sherlock Holmes das gleiche Konzert besucht hat und daß er völlig enthusiasmiert war Auf jeden Fall ist es eine bahnbrechende Vorstellung, daß Shaw und Hohnes im gleichen Konzert gesessen haben könnten, womöglich nebeneinander - der eine verzückt und hingegeben den Klängen nachlauschend und die Spielerin mit Augen verschlingend, der andere griesgrämig („Wieder eine antiwagnerische Veranstaltung!“) und mit zusammengekniffenen Mundwinkeln über

die Witze nachdenkend, die er am nächsten Tage den Zeitungslesern, dieser Bande von gnadenlosen Ignoranten, auf Kosten der Künstlerin auftischen könnte.

Sherlock Holmes muß die Neruda abgöttisch verehrt haben, denn das Konzert beschäftigt ihn den ganzen Tag, und er nervt den armen Watson inmitten detektivischer Kombinationen mit Exkursen über Stradivari- und Amati-Geigen. Das verehrte Idol spielte nämlich eine Stradivari, die ihr von dem Herzog von Edinburgh und dem Earl von Oud-

ley und Hardwicke geschenkt worden war. Das war für einen Detektiv, der in einem leeren Hause in der Brixton Road gerade einen toten Mann gefunden hatte, auf jeden Fall ein etwas abgelegenes Thema. Vom toten Mann kommt er zur Stradivari und von dort zum Konzert: „Der scharlachrote Faden des Mordes verläuft durch das farblose Knäuel des Lebens, und unsere Pflicht ist es, ihn zu entwirren... Und jetzt ein Lunch und danach die Norman-Neruda.“

Die Musik ist ihm aber kein bloßes Mittel der Entspannung und Ablenkung. Sie ist mit sei-

ner Enthüllungsarbeit direkt verbunden. Sie ist das Tor zu einer uralten, prälogischen Anschauungswelt, und er argumentiert wie in unseren Tagen Georg Knepler oder Manfred Bierwisch: „Darwin behauptete, die Fähigkeit, Musik hervorzubringen und zu schätzen, sei der menschlichen Rasse längst eigen gewesen, bevor die Sprache gemeistert wurde. In unseren Seelen befinden sich vage Erinnerungen an jene nebelhaften Jahrhunderte, da die Welt noch in ihrer Kindheit war.“ Der Tatsachenmensch Dr. Watson lehnt diese Spekulationen ab und erkennt

nicht, daß auf ihnen die Erfolge von Sherlock Holmes beruhen. Er sieht in seinem Freund ausschließlich den strengen, unbestechlichen Logiker. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Seinen Scharfsinn verwendet Holmes zunächst beim Sammeln auch der geringfügigsten Indizien und Spuren. Mit diesem Knäuel von Fakten taucht er dann in ein tiefes Meditieren hinab, das manchmal von Musik begleitet ist. Er taucht zurück in jene Kindheitsphase der Menschheit, wo noch nicht Sprache und Logik das Handeln kaschierten und wo das Lügen, als die subtilste Sprachkunst, noch nicht erfunden war. Die scheinhafte Verknüpfung der Fakten, mit denen der Verbrecher seine spuren verwischen will, wird in der Phase der Versenkung aufgelöst. Wenn die sprachlogische Verhüllung fällt, zeigen sich die nackten Tatsachen, und der „rote Faden des Mordes“ tritt sirhthar hervor.

Auf die Meditation folgt die Inszenierung der Täter-Entlarvung. Sie ist melodramatisch. Selten nennt Holmes einfach den Namen des Mörders. Vielmehr verwandelt er die Wirklichkeit in eine künstliche, theatralische Szenerie, die den Täter überrumpelt und zum Geständnis zwingt. Während Verdi ein Libretto benötigte, um die Musik zu erfinden, braucht Holmes die Musik, um das Libretto des Verbrechens zu Ende zu schreiben.

So dachte nur ein einziger Komponist: Arnold Schönberg. Er komponierte seine Lieder bekannte er einmal - „berauscht vom Klang der ersten Worte“ und ohne die Texte zu Ende zu lesen. Wenn er mit dem Komponieren des ungelesenen Gedichts fertig war, fand er, daß er den f Wortsinn in der Musik besser getroffen habe als der Dichter in seinen Versen. Das könnte Sherlock Holmes als sein Berufsgeheimnis Dr. Watson anvertraut, nahen.

Zurück zu Lady Norman-Neruda. Unter Pseudonymen und falschen Berufen geistert sie durch mehrere Geschichten. Wenigstens eine will ich erwähnen, sie ,heißt „Skandal in

Auf den ersten Blick handeli es sich um eine Parodie aui den deutschen Adelsstolz, denn darin treten als handelnde Personen ein „Wilhelm Gottsreich Sigismud von Ormstein, Großherzog von Kassel-Falstein und erblicher König von Böhmen“ und seine adlige Braut „Clothilde von Sachsen-Meiningen, die zweite Tochter des Königs von Skandinavien“ auf. Aber rasch geraten wir in die heikle Sphäre der Musik. Der König unterhielt eine voreheliche Liebschaft zu einer Sängerin, und weil er fürchtet, von ihr erpreßt und in einen Skandal verwickelt zu werden, bittet er Sherlock Holmes um Hilfe. Aber die Sängerin erweist sich als hochsinniger als der König und als scharfsinniger als Holmes, so daß beide am Ende beschämt bekennen müssen, daß sie eine bessere Königin gewesen wäre als die blasse Clothilde. Sie wäre die einzige Frau gewesen, der Sherlock Holmes Herz und Hand geschenkt hätte. Watson berichtet: „Für Sherlock Holmes ist sie die Frau geblieben. Selten habe ich gehört, daß er sie unter einer anderen Bezeichnung erwähnte. In seinen Augen beherrscht sie ihr ganzes Geschlecht und stellt es in den Schatten.“ Diese Frau, die

in der Erzählung Irene Adler heißt, erinnert in vielem an Wilma Norman-Neruda. Sie ist, um eine Generation verrückt, gleichsam deren spiegelverkehrtes Porträt. Wilma ist in Brno geboren, Irene in New Yersey; Wilma errang in Paris ihre ersten Erfolge, Irene erringt sie am Opernhaus in Warschau. In den 80er Jahren werden beide in London gefeiert. Die Geschichte der Irene Adler beginnt am 20. März 1888, und ihr wesentlicher Inhalt besteht darin, daß sie, statt die heimliche Geliebte des böhmischen Königs zu bleiben, einen angesehenen Londoner Juristen heiraten will. 1888 heiratete auch Wilma Norman-Neruda zum zweiten Male, und zwar den Komponisten und Konzert-Unternehmer Sir Charles Halle. Ob sie in ihrer Inkarnation als Wilma dem Schriftsteller Arthur Conan Doyle begegnete, wissen wir nicht. Aber Doyle läßt sie als Irene Adler auf Sherlock Holmes treffen und ihn - dieses Idol der Allwissenheit - an der Nase herumführen. Sie verkleidet sich als Mann so geschickt, daß sogar das scharfe Auge des Detektivs sie nicht erkennt.

Doch sein geigerisch geschultes Ohr vermag sie nicht zu täuschen. Als die Verkleidete ihn ironisch grüßt, murmelt er selbstvergessen: „Ich habe die Stimme schon einmal gehört.“ Irene Adler verschwindet, nachdem sie heimlich ihren Rechtsanwalt Norton und keineswegs den ungleich würdigeren Sherlock Holmes geheiratet hat. Sie hätte nicht zu verschwinden brauchen, da sie keineswegs der Erpressung schuldig war, die nur in der Einbildung des Königs bestand. Sie entschwindet, wenn man es so sagen darf, wie ein Geigenton am Ende eines Konzerts, der ja auch keinen Grund zur Flucht hätte, dem allerdings aus akustischen Gründen nichts anderes übrig bleibt. Zurück bleibt ein weiberfeindlicher Hagestolz, der künftig im Dienste von Scotland Yard wahre Wunder an logischer Deduktion vollbringt, aber kaum je noch eine Gefühlsregung verraten wird. Sherlock Holmes - der Maschinenmensch, der zweibeinige Computer, der, scheinbar der Gerechtigkeit dienend, nur ein gefühlsamputierter Rache-Engel in Knickerbockern und kariertem Jackett ist. Alles Schöne ist aus diesem Gehirn entschwunden. Als ihm eine hübsche Musiklehrerin in der Erzählung „Die einsame Radfahrerin“ mitteilt, sie wohne „in der Nähe von Farnham, an der Grenze zu Surrey“, wird Sherlock Holmes ungerührt antworten: „Eine herrliche Gegend, und für mich voll der interessantesten Erinnerungen. Sie wissen doch, Watson, daß wir dortherum Archie Stamford, den Fälscher, geschnappt haben.“

Und trotzdem - durch diesen trockenen Kopf und durch die Geschichten von Arthur Conan Doyle schwebt die feine, von der Musikwelt längst vergessene Gestalt der Geigerin Wilma Norman-Neruda, der bezaubernden Geigenfee, und ihr Spiel ist es, in deren Erinnerung die schwierigsten Kriminalfälle der Menschheitsgeschichte entwirrt werden. Das ist das wunderlichste Lob, das je der Musik gesungen wurde.

Unser Autor ist Musikschriftsteller und Librettist. Er lebt in Berlin.