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Über das Zeitliche der Scham - oder: Wie man eine Revolution klaut

  • Lesedauer: 3 Min.

Wieder ist eine Schamfrisi abgelaufen. Vorausgesetzt, die Protagonisten haben so

etwas wie Srham

Im Rahmen der Feierlichkeiten, die sich die Einheits-Partei bereitete über fast alle Parteigrenzen hinweg, wurde auch wieder der „friedlichen Revolution“ gedacht. Vor allem von Vertretern der geistesgeschichtlichen Linie, die sich mit Revolutionen auch verbal bis 1990 nur im Zusammenhang mit deren Niederschlagung beschäftigte. Dafür klingen die Stimmen der Amts- und Würdenträger besonders feierlich, wenn sie das Wort in den Mund nehmen: Revolution

Anders die Bürgerinnen und Bürger, die heute von oben auserwählt sind, als Repräsentanten der damaligen Ereignisse zu gelten. Sie sollten es eigentlich besser wissen, aber wes Geld ich fraß, des Maul ich halt. Daß solche Auswahl alles andere als zufällig vonstatten geht, dürfte dem allerletzten inzwischen klar sein. Hier paßt nun wirklich zusammen, was nie getrennt war. Entgegen den pazifistischen Phrasen, den Bekenntnissen zu sozialistischer Basisdemokratie, zu Menschenrechten, zum Abbau der Feindbilder, die von den heutzutage Ausgezeichneten bis in das Jahr 1990 als Propagandaschutzschilder vor sich hergetragen wurden.

Da sitzen sie in Würde, die Gewürdigten, im Focus der Kameras. Das sind doch die, die angetreten waren gegen den Staat als solchen, die wegen vergleichbar harmlosem Kriegsspielzeug und Webjkuiideun l 1;err j ich,t mt $e DDR verdammten! Gegen den Golfkrieg und bundesrepublikanische Kampfeinsätze warteten ihre Fans auf ihre Stimmen vergebens. Es lebt sich gut für sie in dem Land, in dem mit Waffenexporten so viel Geld gemacht wird, daß dafür auch ein sattes Leben abfällt für Bürgerrechtler, von denen niemand so recht sagen kann, für welche Bürgerrechte sie heute eigentlich eintreten.

Für den friedlichen Verlauf der Leipziger Montagsdemonstrationen und der friedlichen Revolution überhaupt soll ihnen gedankt sein. Als sei es 1989 eine neue Qualität gewesen, daß die Empörer die Mächtigen ohne Blutvergießen wegha-

ben wollten. Als hätten die Demonstranten schußbereite Waffen gehabt. Die neue, andere Qualität war doch wohl, daß der Staat DDR, das „System“, die Waffen, die zu Diensten standen, nicht einsetzte. Die neue Qualität war, daß von den untersten bis hinauf zu den obersten Ebenen der Macht Glaube und Bereitschaft nicht verschwunden waren, im Dienste des Volkes zu stehen. Wie hätte der Ruf „Wir sind das Volk“ ohne das Wissen um oder wenigsten Spekulation auf diese „Schwäche“ der Mächtigen erfunden werden können? Solche Einsichten und Fragen sind den Festrednern tabu.

Nichts von alledem auch in der Erklärung der ausgezeichneten Leipziger. Die Einheit sei nicht vollendet, solange es Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit usw. gäbe. Schreiben sie, mogeln sich um das Bekenntnis ihres (Selbst)Betrugs herum und lassen sich von denen auszeichnen, die genau das geradezu zwanghaft tagtäglich herbeiführen.

Und da ist es doch, das schlechte Gewissen der Erwählten, ihr verlorengegangenes Gedächtnis. In Person von Ingrid Koppe. Man muß diese Auszeichnungen nicht nehmen, man muß nicht vollends vergessen haben, daß man selber, daß die meisten DDRler im Herbst 89 etwas anderes wollten als Bundesverdienstkreuze für die billigende Inkaufnahme von Kriegseinsätzen, Verkehrstoten und Arbeitslosigkeit. Man muß sich nicht instrumentalisieren lassen von denen, denen die Ideale und Träuhie von damals'taeilen-“ weit am Arsch vorbeigehen; -Sie lebt es einfach.

Offenbar macht es weder für die Gönner noch für die Geehrten einen Sinn, die Zuneigungen zueinander weiter zu verleugnen. Das, was Millionen schafften, wurde einer kleinen Gruppe, einem Grüppchen unumkehrbar gutgeschrieben, im Materiellen wie im Ideellen. Nun müssen taktische Rücksichten nicht mehr genommen, können die Verhältnisse halbwegs offengelegt werden. Ein Vorteil, für den die um ihre Revolution Betrogenen jeden Tag von neuem zur Kasse gebeten sind. Nicht nur, wenn Kreuze verliehen werden.

JÜRGEN EGER

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