Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

  • Kultur
  • Diskussion im Berliner Literaturhaus

Die Wendehälse wurden im Disput einfach vergessen

  • Lesedauer: 3 Min.

„Renegaten, Dissidenten, Wendehälse. Die Literaten und der Kommunismus“ - der Titel ließ eine Schlammschlacht befürchten. Aber nichts dergleichen geschah letzte Woche im Berliner Literaturhaus. Der Autorenkreis der Bundesrepublik erklärte die Veranstaltung zu einem Versuch, literarische Gruppierungen, die sich seit der Vereinigung „quer zur Mauer“ herausgebildet hätten, miteinander ins Gespräch zu bringen. Ignoranz oder Beschimpfungen, so Moderator Hans-Dieter Zimmermann, hätten in eine Sackgasse geführt, aus der nur herausfinde, wer nach neuen Ansätzen suche. Und dazu gehöre, sich über die in Ost und West oft unterschiedlichen Inhalte von Begriffen auszutauschen.

Im anschließenden Diskurs wurden die Wendehälse einfach vergessen. Jeder kennt sie, doch kaum jemand spricht noch über diese zu vernachlässigende Spezies. Interessanter hingegen die beiden anderen Gattungen.

Michael Rohrwasser nannte einige Thesen zum Thema Renegaten. Seit der Oktoberrevolution wurden sie funktionalisiert, dienten sie der Stärkung der Gruppe. Ihr „Verrat“, den viele sogar mit ihrem Leben bezahlen mußten, bestand im Bruch der Parteidisziplin. Man schlug auf sie ein, um eigene Zweifel zu bekämpfen. In den sozialistischen Ländern wurden sie entweder totgeschwiegen oder zu Unpersonen erklärt. Selbst in der westdeutschen Linken grassierten Berührungsängste ihnen gegen-

über - was unter anderem dazu führte, daß der Antikommunismus den Antikommunisten überlassen wurde.

Dem Stichwort „Dissidenten“ näherten sich die Diskussionsredner an diesem Abend weniger wissenschaftlich. Zwar erinnerte man an dessen Ursprung in der Kirchengeschichte, aber der Begriff wurde in den letzten Jahren derart inflationär gebraucht, daß er nur Mißverständnisse heraufbeschwören könne. Im Gegensatz zu früher wimmle es ja heute nur so vor Dissidenten, merkte Frank Hörnigk ironisch an, der bereits vor der Vereinigung als Germanistikprofessor an der Berliner Humboldt-Universität gearbeitet hat und nun erklären sollte, warum er die DDR seinerzeit nicht verlassen habe. Eine Entscheidung, an der westdeutsche Freunde übrigens ihren Anteil hatten. Niemals hätte er mit ihrem Verständnis für einen solchen Schritt rechnen können.

Seine Befürchtung, diese Veranstaltung könne sich auf ein Psychogramm von DDR-Befindlichkeit reduzieren, erwies sich als unbegründet. Zum Kristallisationspunkt wurde das Jahr 1968. Joochen Laabs, Joachim Walther und Frank Hörnigk waren aufgefordert, sich an den Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei zu erinnern, während Michael Rohrwasser und Hans-Christoph Buch zur Studentenbewegung in Westberlin gefragt waren. Wobei sich schnell her-

ausstellte, daß man das eine Ereignis nicht dem Osten und das andere nicht ausschließlich dem Westen zuordnen kann.

Denn natürlich ist die Geschichte nicht teilbar. Nur wenige Intellektuelle in der DDR haben sich damals gegen die militärische Invasion ausgesprochen, doch für viele war damit die letzte Grenze ihrer Loyalität erreicht. Frank Hörnigk verallgemeinerte die unausgesprochene Frage: „Wo ist der Punkt erreicht, an dem man aussteigen muß? Und was heißt das?“ Hans-Christoph Buch ergänzte gewissermaßen mit einem P.S.. „Als Che Guevara ermordet wurde und der Vietnamkrieg begann, sind Tausende Westberliner auf die Straße gezogen. Als die Prager Hilfe brauchten, wartete die Westlinke darauf, was Fidel Castro zum Einmarsch sagt. Das mache uns erstmal einer nach!“

Sobald 68er zusammenkommen, reden sie über 1968. Podiums- und Publikumsdiskussion drehten sich am Ende um nichts anderes. Bis ein jüngerer Zuhörer einwandte, daß dieses Rechts-Links-Schema völlig unzeitgemäß sei und einem Schattenboxen ähnele. Ihm gelang allerdings nicht, was Frank Hörnigk dann mit einer eher beiläufigen Bemerkung erreichte: Widerspruch zu provozieren. Es stimme ihn besorgt, so Hörnigk, daß er immer mehr Anzeichen von DDR beobachte

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal