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  • Kultur
  • Jethro Tüll zog zum Konzert vom Tempodrom in die Berliner Deutschlandhalle um

Mit Flötentönen begeistert

  • Lesedauer: 3 Min.

Es muß schon als Erwartungsvorschuß gelten, wenn ein zunächst für das Tempodrom angesetztes Konzert in die größte Halle am Ort verlegt werden kann. Und das, obwohl es dafür kaum Werbung gab: Jethro Tüll ist (auch) nach 27 Jahren eine feste Größe vor allem auf der Live-Szene, und es steht außer Frage, daß dies vor allem an der nach wie vor beachtlich kreativen und spielerischen Potenz des Mannes liegt, der als Protagonist der Querflöte in der Rockmusik gilt und der Macher bei Jethro Tüll ist: Ian Anderson.

Das überwiegend in der ersten Hälfte des Konzertes am Montagabend in der Deutschlandhalle präsentierte Material der aktuellen Veröffentlichung „Roots To Branches“ stellte für Band und Publikum gleichermaßen eine neue Herausforderung dar. Denn zusätzlich zu den für Jethro Tüll typischen Rhythmuswechseln und komplizierten melodischen Läufen, der eklektischen und kontrastierenden Verarbeitung unterschiedlichster Einflüsse, pflegt Ian Anderson nunmehr eine perfektionierte Spieltechnik. Er unternimmt den riskanten Versuch, die für das instrumentale Soloprojekt „Divinities“ mit artifizieller Intensität gespielten Ringklappen und Bambusflöten mit der für Jethro Tüll typischen Stilistik zu verschmelzen. Diese Melange verschafft den neuen Stücken eine eigentümliche Ausstrahlung, so beispielsweise in Gestalt fernöstlicher Grundstimmung in „Rare And Precious Chain“. Doch wollte der Funke eigentlich erst so recht überspringen, als mit „At Last, Forever“ eines der ergreifendsten persönlichen Lieder des Ian

Anderson erklang und es mit „Dangerous Veils“ auch flötenstilistisch wieder richtig ,tullig' wurde.

Die Dramaturgie des Abends war, von der Einbindung zweier „Divinities“-Stücke abgesehen, klar gegliedert: bei „Aqualung“ im neuen Arrangement mit quasi orchestraler Rahmung ging der Stimmungsbogen vor der Pause in eine Höhe, auf der die Best-Of-Section nach der Pause die rund 5000 Zuschauer zu wahren Begeisterungsstürmen veranlaßte.

Was Wunder, wenn man das betagte „My God“ oder auch

„Budapest“ von 1987 mit derartiger Intensität zu hören bekommt. Bei alledem blieb Raum für einen Hauch ironischer Selbstdistanz, gelungen insbesondere bei „Fat Man“. Hier allerdings traten die soundtechnischen Probleme der Halle deutlich zutage. Ansonsten war sogar in der „Gegenkurve“ ein akzeptabler Sound zu vernehmen. Neben Anderson, der wie immer die sorgfältig geknüpften Fäden des Ganzen in den Händen hatte und in atemberaubender gestischer Aktion agierte, erhielt vor allem Gitarrist Martin Bar-

re Freiräume, während Andy Giddings (Keyboards), Doane Perry (Drums) und der neue Mann am Baß Jonathan Noyce für die solide Basis verantwortlich zeichneten.

Nach dem offenbar tatsächlich unverzichtbaren „Locomotive Breath“ und der mit Ovationen geforderten Zugabe war nach zwei Stunden und zwanzig Minuten Konzert klar: Jethro Tüll kann nach wie vor auf eine beträchtliche Anhängerschaft zählen, die nicht nur treu, sondern auch kritisch ist.

HERMANN BÜCHNER

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