nd-aktuell.de / 07.08.2004 / Kultur

Wo früher Horzeln und Kutteln gebrochen wurden

Im Zittauer Gebirge gibt ein Natursteig Besuchern Kunde von einer einst europaweit gerühmten Steinbrecherei. Geistiger Kopf des Lehrpfades ist der Maurer Manfred Lorenz

Stefan Tesch
Geht heute im Zittauer Gebirge von Horzeln und Kutteln die Rede, wissen allenfalls Hobby-Geologen und Heimatforscher damit etwas anzufangen. Dabei kannte diese Begriffe einst jedes Kind rund um Jonsdorf. Zumindest vom Abendbrottisch, wenn der Vater heimkam und berichtete, wie viel Taler und Groschen ihm der Steinbruchbesitzer für die gebrochenen Bausteine (Horzeln) oder Felsstücke für die Steinkitterei (Kutteln) gezahlt hatte.
»Seit um 1560 der damalige Ortsrichter Hieronymus Richter die besondere Brauchbarkeit des Jonsdorfer Sandsteins für Mühlsteine entdeckt hatte, entwickelte sich die Steinbrecherei hier bald zu einem lohnenden Gewerbe«, erzählt Manfred Lorenz, der in Jonsdorf zu Hause ist. »Zeitweilig waren bis 90 Arbeiter in den Brüchen tätig, da die Produkte auch in Russland und England gefragt waren«, weiß er aus alten Chroniken. Bevor der Abbau 1918 zum Erliegen kam, habe er sogar eine eigenständige Produktionsform der Steinbrecherei gebildet, wie sie deutschlandweit sehr selten gewesen sei, fand er heraus. Denn in den Brüchen um Jonsdorf wurden komplette, sofort einsetzbare Mahlsteine gefertigt - neben Getreidemühlen auch für Knochen-, Öl-, Loh- und andere Mühlen.
Der 60-jährige Lorenz ist ein Steinfreak. In seinem Garten finden sich kunstvoll arrangierte Basaltsäulen, seine Terrasse stützen Pfeiler, in die er Dutzende Gesteinsarten des Umlandes einarbeitete, und selbst die Steinpilze in einem Beet bestehen tatsächlich aus Sandstein. »Seit der Kindheit hebe ich Steine auf«, schmunzelt er, »wenn man damit erst anfängt, kommt man nicht mehr los davon.« Folgerichtig wurde er Maurer, bildete viele Jahre Lehrlinge aus. Und als 1988 in der Kreisstadt Zittau eine Fachgruppe Geologie und Mineralogie entstand, stieß er schnell dazu.
Fortan verbrachte er viel Freizeit in der archaischen Felswelt des kleinsten deutschen Mittelgebirges vor seine Haustür. Er kennt alle Fundstellen und Halden, verfasste mehrere Broschüren zu den felsigen Fossilien, die vor 140 bis 65 Millionen Jahren aus Ablagerungen in der Kreidezeit entstanden. »Das Gebiet der Mühlsteinbrüche mit seinem groben Sandstein bildete sich im Mittelturon. Der tertiäre Vulkanismus vor etwa 30 Millionen Jahren hinterließ hier eine Vielzahl geologischer Seltenheiten aus Sandstein«, erläutert der Sachse fachkundig.
Mit einigen Mitstreitern vom Jonsdorfer Gebirgsverein 1880 e.V. sowie ABM-Helfern ging Lorenz in den 90er Jahren auch daran, einen einzigartigen Lehrpfad durch das einstige Mühlsteinbruchrevier zu schaffen. Erosionsvorgänge hatten hier bizarre Felsformationen entstehen lassen, etwa Teekanne, Mönch, Löwe, Drei Tische oder Bernhardiner, die bereits seit 150 Jahren den touristischen Reiz des geschützten Gebietes ausmachen. So setzten sie die bestehenden Wanderwege in Stand, stellten Sitzgruppen auf und erschlossen vor allem alte Sachzeugen der Steinbrecherei neu.

825 Stufen bergauf und bergab
»Seit 1998 ein Tunnel saniert wurde, der zum einstigen Steinbruch "Schwarzes Loch" führt, richteten wir hier auch ein Schaubergwerk ein«, berichtet Lorenz bei einem Bummel durch die 35 Hektar große Felsenstadt, wo über 350 Jahre Sandstein für Mühlsteine gewonnen wurde. Nunmehr wird bei Vorführungen erneut die Zeit der Steinbrecher erlebbar. Dabei lassen sich alte Loren, Flaschenzüge und Pulverkammern bestaunen. Um den gesamten Naturpfad abzulaufen, bedarf es übrigens zwei bis drei Stunden und allerhand Trittsicherheit.
Den Auftakt zu der drei Kilometer langen Rundtour, die über exakt 825 Stufen bergauf und bergab durch das Felslabyrinth führt, bildet eine Gesteinsschauwand, die Lorenz selbst entwarf und am Rande des Kurortes errichtete. Auf ihr stellt er zum Anschauen und Angreifen alle wichtigen Gesteinsarten vor, die das Zittauer Gebirge ausmachen - 31 insgesamt. Unter ihnen geheimnisvolle Namen wie Gangbasalt, trachytischer Phonolith, Basit, Stockgranit, Quarz, Rhyolith und Granodiorit. Die meisten stammten aus Ablagerungen in der Kreidezeit, erläutert er. »Hierbei haben wir uns auf das Wesentlichste beschränkt und nur frische, unverwitterte Gesteinsstücke geborgen und auf den einzelnen Platten angebracht«, erzählt er.
Anschließend führt der Trip durch alle vier Jonsdorfer Mühlsteinbrüche - Bärloch, Kellerbergbruch, Weißer-Felsen-Bruch und Schwarzes Loch. »Letzterer ist mit 50 Meter Tiefe der größte Steinbruch. Vom 16. bis Anfang des 20. Jahrhunderts wurde hier äußerst mühevoll Sandstein von herausragender Qualität herausgebuckelt«, weiß der Freizeitgeologe. Selbst große Naturforscher seien einst auf das umwaldete Steinbrecherrevier neugierig geworden, etwa Alexander von Humboldt, der hier 1851 Untersuchungen anstellen ließ. Ein Humboldt-Felsen gedenkt seiner heute noch am Eingang des Schaubergwerks Schwarzes Loch. Gleichwohl gelte es eher als Legende, dass der Berliner Universalgelehrte tatsächlich selbst vor Ort gewesen sei, schmunzelt der Jonsdorfer.
Manfred Lorenz kennt den Steig wie kein anderer. Um die 120 Mal im Jahr laufe er ihn ab, überschlägt er. Denn er ist ein gefragter Wanderführer, weil offenbar mit jedem Felsen per du. So machen Mühlsteinweg-Erkundungen mit ihm erkennbar Spaß. Sie sind lustig und machen schlauer, ohne dass man es merkt. »Ich habe mir vorher lange überlegt, wie man solch einen Lehrpfad betreibt und alles so formuliert, dass es der Laie kapiert und den fachlich Interessierten nicht langweilt - und zugleich beide nicht ermüdet«, sagt er.
Mithin lässt sich mit ihm lebhaft nachverfolgen, wie die Arbeiter einst haushohe Felswände durchmeißelten, um an die besten Steinpartien heranzukommen, oder wie der talwärtige Abtransport der schweren Mühlrundlinge erfolgte. Kleine Experimente und Aufmerksamkeitstests sprechen vor allen Kinder an, und wenn Lorenz merkt, dass eine Gruppe mehr an den skurrilen Felsgebilden als an Steinbruchhistorie interessiert ist, richtet er sich danach.
Klüfte und Gänge in den geschützten Sandfelsen säumen den gesamten Rundweg; dazwischen Dutzende Erläuterungstafeln, die Lorenz selbst erarbeitet hat. Sie vermitteln dem Wanderer viel Wissenswertes zu Geschichte und geologischen Eigenheiten der Felsen wie zur Steinbrecherei. Auch die alte urige Steinbruchschmiede mitten im Wald funktioniert wieder originalgetreu. Und gleich um die Ecke erfährt man in einer Felswanne, womit sich die Männer in ihrem harten Tagwerk bei Laune hielten: mit Deputat-Schnaps. »Wenn der Fusel sie schon nicht resistent machte gegen den ständigen Steinstaub in der Lunge, sollte er sie wenigstens ein wenig dafür entschädigen, dass viele von ihnen kaum älter als 40 Jahre wurden«, meint er nachdenklich. Leider ist das »Schnapslager«, als das ein Schild diese Wanne ausweist, längst leer.

Gemauerter Kletterfelsen mit Gipfelbuch
Ständig verführe ihn seine Steinbegeisterung zu neuen Ideen, erzählt der 60-jährige. Eine brachte ihn sogar erst zu »Außenseiter - Spitzenreiter« und dann ins Guinnessbuch der Rekorde. Denn mit Sohn Michael, einem begeisterten Alpinisten, errichtete er 1999 im Garten hinterm Haus den »weltweit größten privaten Kletterfelsen«. Dieser ist stolze fünf Meter hoch, vereint an den Flanken alle typischen Gesteinsformationen des Zittauer Gebirges und lässt sich auf immerhin acht verschiedenen Routen stilgerecht ersteigen. »bis zu Schwierigkeitsstufe 4«, so Lorenz. Konsequenterweise finden Kletterer oben auch ein Gipfelbuch im typischen weißen Kästchen sowie eine Abseil-Öse vor. Denn immer wieder kreuzen junge Alpinisten oder auch Urlauber auf, um ein wenig zu üben. »Ja, und wen dann oben mal der Mut verlässt, für den halten wir auch eine hohe Leiter bereit, um ihn wieder herunter zu holen«, grient der Erbauer.
Als Mann vom Fach hob Lorenz für diesen Kraxelstein zunächst eine solide Grube aus und goss dann ein zwei Meter tiefes Fundament für den Kletterstein. Dessen Inneres ist allerdings hohl, damit er ihn nach langen Wintern auch inwändig besteigen und auf Frostschäden inspizieren kann. Mithin handelt es sich nicht um einen riesigen Monolith, den sie anfahren ließen, sondern der Fels wurde hochgemauert und anschließend mit typischen Natursteinen der Region so täuschend echt verkleidet, dass man glauben könnte, er stehe schon seit Urzeiten hinterm Haus.

Manfred Lorenz (Pilzberatungsstelle Jonsdorf), Tel. (035) 84470300, Führungen durch die Mühlsteinbrüche: jeden Mittwoch 14 Uhr.