nd-aktuell.de / 07.08.2004 / Kultur

Abwärts

Hartz IV in Demmin - Lokaltermine

Christina Matte
In der Stadt sind kaum Menschen unterwegs. Wir suchen das Landratsamt und erkundigen uns bei der ersten Familie, der wir begegnen, nach dem Weg. Der Mann und die Frau zucken mit den Schultern. Sie tragen schlabbrige Jeans und weite T-Shirts, deren Farbe sich nicht definieren lässt. Die Haare der jungen Frau sind fettig. Das kleine Mädchen, ihre Tochter, steckt in einem weißen Tüllkleid, dessen reich besticktes Röckchen sich von dem dünnen Körper abspreizt. »Du siehst aber hübsch aus, wie eine Prinzessin.« Das Kind lacht. In dem Festgewand mit dem Chic der Kleiderkammer wirkt es bizarr. Der Mann sagt: »Nein, wir können nicht helfen.« »Doch«, besinnt sich die Frau, »ich glaube, Sie müssen Richtung Sozialamt laufen. Ich zeige Ihnen, wie man da hinkommt.« Demmins Landrat Frieder Jelen hat attraktives weißes Haar, eine gesunde Gesichtsfarbe, kaum Falten und strahlend blaue Augen. So sieht jemand aus, der nachts gut schläft. Aber das kann täuschen. Schließlich liegt der Landkreis Demmin nicht im weithin properen Bayern, sondern in Mecklenburg-Vorpommern. Das nordöstliche Bundesland gibt im republikweiten Kaufkraftvergleich das weit abgeschlagene Schlusslicht, wobei innerhalb Mecklenburg-Vorpommerns Jelens Landkreis den letzten Platz hält. Kurz: Jeder Dritte dort hat keine Arbeit, weil es kaum Arbeitsplätze gibt. Eine strukturschwache Region, zu der Hartz IV wie die Faust aufs Auge passt - nämlich gar nicht. Hartz IV soll das Thema des Gesprächs sein, um das wir Jelen (CDU) gebeten haben. Er weiß das, doch er redet lieber darüber, dass die Kommunalpolitik an der Strukturschwäche nicht schuld ist. Er spricht von »Umbrüchen in der Landwirtschaft«, welche die Region immer prägte, von größeren Industriebetrieben, die es hier nie gegeben hat, und kleineren Nahrungsmittelbetrieben, die nach der Wende zusammenbrachen - als ob Ossis wie wir das nicht wüssten. Neu ist uns auch nicht, dass es gelang, wieder etwas Industrie in der Gegend anzusiedeln. Jelen erläutert das im Detail: Man habe das Netto-Zentrallager, Pfanni, eine Brauerei, zwei moderne Käsereien, ein Pektin-, ein Milchfutter-, ein Tierkörperbeseitigungswerk, eine Fischfarm sowie gewerbliche Zentren, in denen etwa 15000 neue Arbeitsplätze entstanden. Das reiche nicht, reiche ganz und gar nicht! Er sähe allerdings gute Chancen: Da Kartoffelanbau und Pflanzenzucht Stärken der Region seien, könnte die Ernährungswirtschaft hier weitere Standorte finden. Auch sei der Tourismus kaum entwickelt, obwohl das Potenzial da sei: »Wir haben herrliche Landschaften! Und ein Freizeitpark in Jarmen an der nun sehr schnellen A20, für den wir Investoren suchen, brächte nicht nur 1000 Arbeitsplätze, er könnte die vergessene Region wieder ins Bewusstsein rücken.« Jelen ist nicht der Mann, der sich beim Vortrag einer Erfolgsbilanz unterbrechen ließe. Merkt er nicht, dass er peinlich ist? Sein nächster Satz stürzt uns freilich in Zweifel, ob wir Abbitte leisten müssen: Ist sein Job nicht das große Ganze, der Überblick, die Strategie? Nichts anderes hat er im Sinn, wenn er sein weißes Haupt schüttelt: »Es stimmt nicht, dass es in Regionen, die wie wir strukturschwach sind, überhaupt kein Wachstum gibt! Wir brauchen noch zehn oder zwanzig Jahre, um die Strukturschwäche zu überwinden. Deshalb wäre es auch falsch, die Förderung für den Aufbau Ost auf Wachstumskerne zu konzentrieren!« Wenn das geschähe, weiß Jelen, ginge hier für immer das Licht aus. Damit ist er doch noch bei Hartz IV. Das Gesetz sei exakt am 9. Juli über Deutschlands Kommunen hereingebrochen. Mitten im Sommer! Zur Urlaubszeit! Erst im September könne der Kreistag zusammentreten und entscheiden, ob Demmin die Option annimmt, das Gesetz selbst umzusetzen, oder mit der Agentur für Arbeit eine Arbeitsgemeinschaft bildet. Jelen will nicht, dass seine Bürgervertreter die Tendenz aus der Zeitung erfahren, doch gegen die Option spricht vieles: Mit 6,5 Millionen stehe der Haushalt in der Kreide, und die Kommune könne nicht, wie es das Gesetz vorschreibt, umschulen und bundesweit vermitteln. Nur die Agentur für Arbeit verfüge über das Instrumentarium, und mit einer AG, hofft Jelen, sei die notwendige Verwaltungsarbeit für die 14000 Bedürftigen noch rechtzeitig zu bewältigen. Das Arbeitsamt könne die Anträge schon dieser Tage ausgeben, freilich nur an seine Klientel - die mittlerweile 11200 Arbeitslosenhilfeempfänger. Die 2900 Sozialhilfeempfänger, die beim Sozialamt registriert sind und für die bislang die Kommune aufkommt, müssten auf Anträge noch warten - ein simpler Grund: Man habe noch keine. Jelen seufzt: »Die Kaufkraft wird weiter sinken. Und eine Entlastung der Kommunalfinanzen, wie Hartz IV sie versprach, wird bei uns nicht greifen.« Seine Rechnung ist kompliziert: Die Kommune habe bisher Wohngeld und Sozialhilfe für 2900 Menschen bezahlt. Die könne man nun an den Bund abgeben. Dafür müsse man ab Januar für 14000 Menschen die Kosten ihrer Unterkunft übernehmen. Die seien trotz Ausgleichszahlungen höher als die Kosten zur Lebenshilfe, die der Kreis bisher aufbringen musste. Gewinnen würden nur Kommunen, die mehr Sozialhilfeempfänger als Langzeitarbeitslose zählen. »Es gibt Länder, die werden sich mit dem Gesetz gesund stoßen. Wir nicht, uns spart es keinen Cent.« Ein Wort des Mitfühlens für die Menschen, die künftig bettelarm sein werden, entschlüpft Frieder Jelen nicht. Sicher, wem würde es auch nützen? Er hätte es trotzdem sagen können. Von der »Königsebene« steigen wir ein paar Stufen hinab in das Büro von Susanna Wache. Der Jugend- und Sozialdezernentin, 50, CDU-Mitglied, muss das Wort, das Jelen nicht einfiel, schon von Amts wegen über die Lippen springen. »Die Menschen tun mir leid«, sagt sie. Wir spüren, auch das Herz ist beteiligt. Neben dem Fenster ein Bild Albert Schweitzers. Ein subversives Element, ein feiner, unterschwelliger Angriff auf deutsche Selbstberuhigung, die glaubt, Armut gibts nur in Lambarene? Kaum. Eher Bewunderung. Oder ein Anspruch, den die Dezernentin an ihre eigene Arbeit stellt. Auf jeden Fall ist es Vertrauen bildend, und jedem sozialen Amt sei empfohlen, ein Bild von Schweitzer aufzuhängen. Man fühlt sich gleich in guten Händen. »Das Gesetz«, erklärt Wache, »können wir nicht ändern. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die Menschen im Januar auch wirklich ihr Geld bekommen. 331 Euro pro Person, so man denn berechtigt ist - das heißt, wenn in der Bedarfsgemeinschaft keiner mehr verdient, als zulässig ist, oder mehr als 13000 Euro an Vermögen besitzt. Wenn doch, dann übernehmen wir auch nicht die Kosten der Unterkunft. Wo wir sie übernehmen dürfen, müssen wir strenger kontrollieren, ist der Wohnraum angemessen? Angemessen sind pro Person etwa 30 Quadratmeter, das schätze ich mal, das ist kein Richtwert. Zu den 331 Euro und dem Geld für Unterkunft kommt Sozialgeld für die Kinder. Ein Sozialhilfeempfänger kann also mehr kriegen als vorher, wobei die Beihilfen wegfallen: Gehen Kühlschrank, Fernseher oder Kinderfahrrad kaputt, gibt es künftig keinen Ersatz mehr. Das Kleidergeld ist auch gestrichen. Braucht jemand eine neue Jacke, muss er dafür ansparen, und im Winter wird es wohl vorkommen, dass der eine oder andere ohne Jacke vor unserer Tür steht - wir werden ihnen nicht helfen können. Vielleicht bestellt er dann im Versandhaus und tappt in die Schuldenfalle...« Susanna Wache wird es nicht gern lesen: Mit Schweitzer hat ihr Job nichts zu tun. Der arbeitete mitten im Urwald, auf sich allein gestellt, mit nur wenigen Helfern, um zu heilen, Leid zu lindern. Hier arbeitet ein ganzer Apparat, eine Riesenmaschinerie, die der Staat sich leistet und leisten kann, um massenhaft Leid zu produzieren. Vermutlich weiß Susanna Wache, was Otto Normalbürger noch gar nicht ahnt: Mit Hartz IV wird der Weg in die Armut kurz. Und die Armut ist eine andere: Nicht alle sind von ihr betroffen, doch zunehmend mehr Menschen werden aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Eine ganze Mittelschicht wird künftig auf der Kippe leben: Wer morgen die Arbeit verliert, muss seine Rücklagen aufbrauchen, um dann doch in Armut zu fallen - wir werden morgens mit Angst aufwachen. Doch so wenig Susanna Wache das Gesetz zu ändern vermag, so wenig darf sie so etwas aussprechen. Sie wünscht sich »mehr Aufklärung von den Medien«. Wir werden uns alle Mühe geben. Vom Büro der Sozialdezernentin geht es weitere Stufen abwärts. Auf den Fluren des Arbeitsamtes sitzen jene, die Hartz IV ausbaden müssen. Noch sind sie nicht ganzunten, doch bald werden sie es sein. Wobei die Wenigsten das schon wissen. Ronny August, 28, hat aber »kein gutes Gefühl«. Obwohl er gehört hat, Hartz IV könne auch einiges zum Guten wenden. Alle Sozialhilfeempfänger und Jugendlichen unter 25 sollen beispielsweise sofort eine Ausbildung oder Arbeit bekommen. Nur wie denn? Wie denn in Demmin? Man wolle bundesweit vermitteln. Von bundesweiter Arbeitsvermittlung hat Ronny August die Nase voll. Die Vermittlungsagentur hatte ihn auf »Vermittlungsgutschein« kurzerhand nach Augsburg geschickt, wohin er auch willig ging. »Nach zwei Tagen war ich zurück! Die Firma dort«, schimpft er, »zahlte den Jungs weder Krankenkasse noch Lohn - ich bin doch nicht völlig verrückt.« Dabei würde er »liebend gern abhauen! Ich bin jung, ich will nicht umherkrauchen. Sondern arbeiten, leben, Urlaub machen, auch mal shoppen, Spaß haben«. Im Augenblick, seit zwei Monaten, bekomme er 652 Euro Arbeitslosengeld - schon jetzt könne er Frau und Kind nur mit Nebenjob durchbringen. Von Hartz IV trennen ihn noch zehn Monate. Noch hofft er - ja, worauf eigentlich? Auch Kurt Kaim hofft, noch ein Mal davonzukommen. Der gelernte Versicherungsfachmann, der einst »aus Liebe zum Vaterland« aus dem Westen nach Demmin zog (»Wie blöd muss man eigentlich sein, um sich gerade hier anzusiedeln?«), ist erst seit zwei Monaten arbeitslos, bis dahin war er ein halbes Jahr mit dem Bund in Kosovo. Ende August will er wieder weg, mit der KFOR auf einen Afghanistantrip. Er hat sich freiwillig gemeldet. »Wir können dort nichts mehr löten«, glaubt er, »das Einzige, man kann Kohle verdienen.« Das nennt man nicht nur bundesweite, sondern weltweite Arbeitsvermittlung. Für Katrin Haase leider kein Ausweg. Die 25-Jährige, die ihren Sohn Dustin allein erzieht, wollte »was mit Tieren machen«. Da sie mit Tieren nichts finden konnte, habe sie Hauswirtschaft gelernt, ein Angebot des Arbeitsamtes. Das offenbar am Bedarf vorbeigeht - Kunststück, es gibt keinen Bedarf: Sie habe »alle Gaststätten und Hotels in Demmin mit Bewerbungen durch, aber die melden sich erst gar nicht«. Seit 2001 bekomme sie zu 300 Euro plus Mietzuschuss, die ihr das Sozialamt zahlt, wöchentlich 39.90 Euro ergänzende Arbeitslosenhilfe. Wenn sie nun ins Arbeitslosengeld II fällt, rechnet sie mit Einbußen. Wie hoch die sind, will sie noch gar nicht wissen. »Wir müssen uns eben einteilen.« »Der große Aufschrei«, denkt Carmen Schröder, stellvertretende Geschäftsstellenleiterin und Arbeitsberaterin in Demmin, »kommt erst, wenn die Bescheide eintreffen. Wenn sie sehen, wie wenig sie wirklich kriegen.« Ihr geht das Ganze an die Nieren, denn »unsere Arbeitslosenhilfeempfänger sind alle sehr nett«. Sie würden auch Arbeit im Ausland annehmen, beispielsweise in Norwegen - man vermittele ja nicht erst seit gestern, und Hartz IV werde daran nichts ändern. »Wirklich«, sagt sie, »sie sind arbeitswillig. Bei uns werden Sie bei der Spargelernte keinen einzigen Polen finden. Das machen alles unsere Leute. Sie verdienen zwar kaum was, aber sie sind unter Menschen.« Um sich nicht schon vorher verrückt zu machen, will die Arbeitsvermittlerin erst mal »positiv rangehen«: »Wir haben noch keine Erfahrungen. Alles Weitere muss sich finden.« Wieder ein paar Stufen abwärts zum Sozialamt Stavenhagen. Bärbel Schlowak, die Amtsleiterin, könnte »im Augenblick nur noch schreien«: »Wir sind ja hier in einer Kleinstadt. Wir leben und arbeiten mit den Leuten. Wir versuchen, so vernünftig wie möglich miteinander umzugehen, damit wir uns nach Feierabend, wenn wir uns begegnen, noch grüßen können.« In diesen Tagen werde das schwer: »Wir sind nicht informiert, nicht geschult. Die Mitarbeiter wissen nicht, was aus ihnen wird, wenn möglicherweise ein Teil ihrer Klientel woanders betreut wird - aber was sie schon alles aushalten müssen.« Das ist nicht Angelika Kromms Sorge. Die 33-Jährige hat keine Scheu, mit uns zu sprechen und sich fotografieren zu lassen: »Kommt alle ran«, ruft sie ihren Kollegen aus der derzeitigen ABM zu, »ich war schon früher mal in der Zeitung, diesmal kommen wir alle rein.« Angelika Kromm, bis zum Ende der DDR in einem Greifswalder Altenheim beschäftigt, ist seit dem Umzug nach Stavenhagen vor 14 Jahren ohne Arbeit. Sie hat zwar auf Hauswirtschaft umgeschult - naja, das Thema hatten wir schon. Sie und ihre drei Kinder leben schon ewig von Sozialhilfe. Computer oder Markenklamotten für die Jungen seien nicht drin, »sie murren nicht, die anderen Kinder in ihren Klassen haben ja auch nichts.« Trotzdem sei das Leben freudlos: Jeden Cent müsse man drei Mal umdrehen, immer nur Angebote kaufen. »Sollten wir noch weniger kriegen, können wir uns nen Strick nehmen.« Angelika Kromm meint das nicht ernst. Sie ist niemand, der sich zurückzieht. Am liebsten ginge sie auf die Straße, um gegen Hartz IV zu protestieren. Sie schluckt: »Aber es kommt keiner mit.« In Mecklenburg-Vorpommern braucht immer alles etwas länger.