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Pflegeversicherung kommt immer mehr ins Gerede

Offener Brief von fünf Berliner Sozialstationen der Freien Wohlfahrtspflege offenbart Defizite

  • Lesedauer: 3 Min.

Sehr geehrte Damen und Herren, wir wenden uns heute an die Öffentlichkeit, weil wir seit einigen Monaten mit dramatischen Auswirkungen der Pflegeversicherung konfrontiert sind.

Seit Jahren arbeiten wir als Sozialstationen und Mitgliedseinrichtungen der Wohlfahrtsverbände in der häuslichen Krankenpflege in Schöneberg.

Auch aus unserer Sicht kommt die Pflegeversicherung nicht zu Unrecht immer mehr ins Gerede. Mag sie einerseits für manche pflegende Angehörige eine gewisse finanzielle Anerkennung bringen, so erfahren wir andererseits in unserer praktischen Arbeit die negativen Auswirkungen.

Patientinnen, die von der Pflegeversicherung als schwerpflegebedürftig anerkannt und einer Pflegestufe zugeordnet wurden, haben größte Schwierigkeiten, im Krankheitsfall Leistungen ihrer Krankenkasse zu erhalten, obwohl eine medizinisch-pflegerische Notwendigkeit besteht und eine entsprechende ärztliche Verordnung vorliegt.

In diesem Zusammenhang geht es uns heute speziell um die Pflege und Betreuung Sterbender im häuslichen Bereich. Insgesamt hat die Nachfrage in den letzten Monaten in vielen ambulanten Pflegeeinrichtungen zugenommen. Finanziell und strukturell wird aber dieser Tatsache überaus mangelhaft Rechnung getragen.

Die Rahmenvereinbarung der Krankenkasse schreibt vor, die Finanzierung jeweils mit der Krankenkasse individuell auszuhandeln. Unsere Erfahrung ist, daß hierbei weder pflegerische noch medizinische oder gar psycho-soziale Kriterien eine Rolle spielen, sondern sich die Bewilligungen überwiegend an wirtschaftlichen Überlegungen orientieren. Einschlägige Erfahrungen haben wir mit der AOK 11 unseres Bezirks. So sollten beispielsweise aus Kostengründen einer Sterbenden und ihren Angehörigen innerhalb von fünf Tagen drei Pflegeeinrichtungen zugemutet werden, eben weil der dritte Anbieter der billigste war Aufgrund die-

ses Wechsels wäre die Patientin für einen Tag nicht versorgt gewesen. Genau in dieser Zeit verstarb sie.

Dieses Beispiel macht deutlich, daß unter den derzeitigen Bedingungen die - so groß geschriebene - Qualitätssicherung kaum gewährleistet sein kann und für die Betroffenen unzumutbare Situationen resultieren.

Ein weiteres Problem stellt sich in unserem Pflegealltag immer häufiger: Schwerstkranke Menschen, die in absehbarer Zeit sterben werden, dies aber in ihrer eigenen Wohnung nicht wollen, oder wo dies nicht möglich ist, haben größte Schwierigkeiten, einen Ort zu finden, an dem sie bis zu ihrem Tod, angemessen versorgt, bleiben können.

Ist der Zustand eines Menschen „akut genug“ (starke Schmerzen oder andere medizinische Probleme), hat er zwar die Möglichkeit der Krankenhauseinweisung, um dort kurzfristig akut-medizinisch behandelt zu werden, aber eine schnellstmögliche Entlas-

sung wird in der Regel angestrebt.

Beispiel: Eine Patientin, krebskrank im fortgeschrittenen Stadium, deren Lebensgefährte ihren Zustand nicht mehr ertragen konnte, war wochenlang vergeblich auf der Suche nach einem Ort, an dem sie in Ruhe sterben konnte.

In einer Großstadt, in der zahlreiche alte Menschen isoliert und vereinsamt leben, wäre es ein Trugschluß zu glauben, daß die meisten Menschen ihr Leben angstfrei und friedevoll beenden können. Unsere Erfahrungen zeigen,

daß dies leider nur in sehr seltenen Fällen möglich ist.

In unserer Arbeit als Sozialstationen versuchen wir, dem Bedarf in der Pflege und Betreuung Sterbender adäquat zu begegnen. Um der ambulanten Sterbepflege eine langfristige Perspektive zu geben, fordern wir angemessene Kostenübernahmen und den Ausbau weiterer Hilfsangebote wie Hospize, Palliativstationen oder Wohnpflege statt Chronikerabteilungen, die den Bedürfnissen der Betroffenen und deren Angehörigen entsprechen können.

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