nd-aktuell.de / 03.11.1995 / Wissen / Seite 14

Zweifelhafte Vereinfachung der Rechtschreibung– Chance vertan

Eine Reform der deutschen Orthographie sollte nicht übers Knie gebrochen werden / Von Prof. Dr. WOLFGANG ULLRICH WURZEL

Die Rechtschreibreform bleibt weiter im Gespräch, denn die Ministerpräsidenten der Länder haben kein grünes Licht gegeben. Unser Autor sieht in einer weiteren gründlichen Diskussion eine Voraussetzung für den Erfolg der Reform und benennt Kritikpunkte aus sprachwissenschaftlicher Sicht.

Leider wird die gegenwärtige Diskussion nicht immer sachkundig geführt. Wenn man nachvollziehen will, was eine Rechtschreibreform bedeutet und was nicht, so ist es zunächst einmal notwendig, zwischen der Sprache selbst und ihrer schriftlichen Wiedergabe, d.h. ihrer Orthographie, zu unterscheiden. So kann es bekanntlich durchaus bessere und schlechtere Orthographien geben (wenn dem nicht so wäre, brauchten wir keine Reform!), aber bessere und schlechtere Sprachen gibt es nicht. Eine Veränderung der Rechtschreibung bedeutet damit keinen unzulässigen Eingriff in die Sprache, wie es von Gegnern jeder Rechtschreibreform immer behauptet wird.

Wie ist das gegenwärtig vorliegende Reformkonzept zu beurteilen? Sollte es in dieser Form angenommen werden? Nicht nur rückwärtsgewandte „Sprachpfleger“ (die sich da-

gegen sträuben, daß aus Necessaire ein Nessessär wird) und profilierungssüchtige deutsche Politiker haben etwas gegen die jetzt geplante Reform. So einfach ist es eben nicht. Es gibt eine ganze Reihe ernstzunehmender sprachwissenschaftlicher Bedenken gegen das vorliegende Reformkonzept.

Eine Rechtschreibreform verfolgt im Grunde zwei miteinander verbundene Ziele, nämlich erstens die Orthographie zu systematisieren, d.h. Ausnahmen zu beseitigen, und zweitens die Orthographie an den erreichten Stand der Sprachentwicklung anzupassen. Beides bedeutet eine Vereinfachung der Schreibung. Eine Reform ist daran zu messen, inwieweit sie das tut.

Hier muß man sagen, daß mit dem vorliegenden Reformkonzept die Chance vertan wurde, die deutsche Rechtschreibung in möglichst star-

kem Maße zu vereinfachen. Zwar sind in bestimmten Bereichen unstrittige Vereinfachungen vorgesehen, so u.a. in der Abtrennung (Kis-te wie Mas-ke statt Ki-ste usw.), aber weshalb hat man die Frage der Kleinschreibung von Substantiven ausgespart, weshalb werden Fremdwörter nicht strikter an die deutschen Sprachgewohnheiten angepaßt? So soll es künftig zwar Apoteke und

Videotek, aber weiterhin Theater und Rhetorik heißen. Die geplante Reform geht nach Ansicht vieler Fachleute nicht nur nicht weit genug, sie geht zumindest partiell in die falsche Richtung. Dazu zwei Beispiele.

Im Deutschen wird der kurze e-Laut teils als e, teils aber als ä geschrieben. Die e-Schreibungen überwiegen bei weitem, die ä-Schreibungen bil-

den die Ausnahmen. Entsprechend sollte die Schreibung zugunsten des e vereinheitlicht werden, wenn die betreffenden Wörter nicht von Wörtern mit einem a abgeleitet sind wie Bälle und Bällchen von Ball. Doch das Reformkonzept sieht gerade eine Ausdehnung der ä-Schreibung vor, wenn es sich nach Meinung der beteiligten Wissenschaftler auch nur irgendwie rechtfertigen läßt. So soll zum Beispiel statt Gemse künftig Gämse geschrieben werden, weil.es daneben ein oberdeutsches Wort Garns gibt, von dem Gemse aber gar nicht abgeleitet ist. Aber das Wort behende, von dem nur noch Philologen wissen, daß es einmal von Hand abgeleitet worden ist, soll behände geschrieben werden usw Das sind keine Vereinfachungen, sondern Komplizierungen der Orthographie.

Ein vielgenanntes Beispiel für die Inkonsequenz der gegenwärtigen deutschen Orthographie sind Schreibungen wie radfahren, aber Auto fahren. Eine Rechtschreibreform sollte hier zur Vereinheitlichung führen. Das ist auch vorgesehen,

solche Fügungen sollen künftig als zwei Wörter geschrieben werden. Es sind also Schreibungen wie Rad fahren, Eis laufen, Achtgeben und Not tun vorgesehen. Doch viele solcher Bildungen haben sich im Laufe der Sprachgeschichte zu einheitlichen Wörtern in dem Sinne entwickelt, daß sie einheitliche Begriffe bezeichnen und ihre Bedeutung sich nicht mehr aus den Bedeutungen ihrer beiden Bestandteile ergibt, vgl. Fuß fassen, Stellung nehmen und Wort halten. Besonders deutlich wird das in solchen Fällen, wo der substantivische Bestandteil als eigenständiges Wort faktisch überhaupt nicht mehr existiert (achtgeben, kehrtmachen) oder mit der entsprechenden Bedeutung nicht mehr vorkommt {nottun). Hier widerspricht die vorgesehene neue , Regelung dem Verlauf der deutschen Sprachentwicklung. Das kann auch der Reformvorschlag nicht ganz ignorieren, denn es sind doch wieder eine Reihe von Ausnahmen vorgesehen, die auch künftig zusammengeschrieben werden sollen, beispielsweise haushalten, preisgeben, standhalten und wun-

dernehmen. Das führt dann wieder zu solchen Konsequenzen, daß zwar Hofhalten, aber haushalten zu schreiben wäre wie heute Auto fahren, aber radfahren. Von einer Vereinfachung möchte man auch hier nicht sprechen.

Seit das Reformkonzept veröffentlicht wurde, haben sich verschiedene renommierte Sprachwissenschaftler, darunter ausgewiesene Orthographieexperten, in Fachorganen und in der Öffentlichkeit mit guten Argumenten kritisch dazu geäußert und davor gewarnt, dieses Konzept übereilt ohne weitere Diskussion anzunehmen. Die Rechtschreibreform ist wichtig genug, um nicht übers Knie gebrochen, das heißt von den Kultusministern „abgenickt“ zu werden. Wenn jetzt also spät, aber noch nicht zu spät auch von Seiten verschiedener Landesregierungen eine breite Diskussion zur Rechtschreibreform in Politik und Öffentlichkeit gefordert wird, so ist dem nur zuzustimmen, vorausgesetzt, in dieser Diskussion erscheinen Sachargumente und nicht regierungsamtliche Autorität.