Die Lust an der Skepsis

Vor 10 Jahren starb Elias Canetti

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: ca. 4.5 Min.
Wenn das Ich auf Welt trifft, steht es meist schlecht um das Ich. Nicht so bei Elias Canetti. Er nimmt Welt einen Moment beiseite, vielleicht kommt sie ja in der Zwischenzeit zur Vernunft. So lange muss man sie den eigenen Überlegungen aussetzen. Erst dem extremen Zugriff offenbart sich die Normalität als absurder Traum. Canetti ist ein mit der Aura des Rigorosen behafteter Autor, einer, der alles auf die Spitze treibt, bis dorthin, wo es keinen Spaß mehr macht. Kein populärer Autor im Sinne von Leser-Bestätigung. Die großen seufzenden Ja-so-ist-es-Erlebnisse versagt uns Canetti. Was er schreibt, das provoziert Selbstverständlichkeiten, durchkreuzt die Selbstgefälligkeit des Lesers. Weil dieser Autor sich selber zeitlebens ein Problem blieb. Obwohl er sich auch immer wieder biografisch zu erklären versuchte, oder gerade deshalb, befremdet er. Seine Prosa war immer eine Denkform. Er erzählte uns keine Geschichten, sondern die Geschichte des Geistes, wie sie sich ihm aufdrängt. Er schreibt aus lauter Not und mündet so immer in schroffem Ab-Bruch. Er ist durch und durch Essayist, Selbstexperimentator, der nach einem Ausdruck sucht, sein defektes Weltverhältnis zur sprachlichen Vollkommenheit zu bringen. So kam Canetti aufs Fragment, ein Werk aus Nachträgen, die lauter scharfkantige Vorgriffe sind. Sein einziger Roman »Die Blendung« ist auch so eine schauderhafte Parabel auf die Destruktion des Geistes. Ein Professor und Büchernarr heiratet seine derbe Haushälterin, die ihn mit Grobheit vernichtet. Das Niedere schleift die Bastionen des Geistes, weil dieser Geist so grotesk arglos ist. Canetti scheint durchaus gewillt, ihm das vorzuwerfen. Die Barbarei der Masse gegenüber dem Einzelnen wartet immer auf ihre Vernichtungschance. Das hat Canetti in einem der rätselhaftesten Bücher, die ich kenne, beschrieben: »Masse und Macht«. Mit wissenschaftlich-theoretischen Maßstäben kommt man diesem wichtigen Buch nicht bei. Es zwingt dazu, alles zu vergessen, was man zu wissen meinte, und sich ganz auf das einzulassen, was hier und jetzt zu lesen ist. Magie des Buches. Es beginnt: »Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes.« Auch ein Buch wie dieses reißt uns hinein in eine fremde Welt. Canetti ist ein Meister der Befremdung. Das Fremdeste, was wir zu Denken im Stande sind, ist der Tod. »Mein Haß gegen den Tod setzt ein unaufhörliches Bewußtsein von ihm voraus; es wundert mich, wie ich so leben kann.« Einen natürlichen Tod gibt es für Canetti nicht, jeder Tod ist ein Gewaltakt gegen das Leben, ist Mord. Canettis ungeheure Todesfurcht wird ihm zum schöpferischen Antrieb. Geboren 1905 in Bulgarien, in einer jüdischen Familie spanischer Herkunft, ist Canetti durch den Zwang der Umstände ein Weltbürger. In »Die gerettete Zunge« beschreibt er, was ihm an Heimat blieb. Eine vage Erinnerung. »Die Fackel im Ohr«, seine Lebensgeschichte von 1921-1931, weist ins Herz der Avantgarde: Berlin zwischen Brecht und George Grosz. Er selbst stellt sich immer abseits, bleibt Beobachter vom Rande her. Gleich nach Erscheinen seines Erstlings »Die Blendung« 1935 in Wien, muss er nach England emigrieren. Ein deutschsprachiger Schriftsteller ohne Namen - und ohne Geld - in London. Wie schwer die langandauernde Demütigung seiner Existenz dort war, lässt sich in seinem erst im vergangenem Jahr erschienen Erinnerungsbuch »Party im Blitz« nachlesen. Welch eine Hassliebe! Canettis Werk ist Poesie der Skepsis. Etwas, das uns Deutschen heilsam wäre, würden wir es denn aufmerksamer und weniger voreingenommen lesen: »Das Begriffliche interessiert mich so wenig, daß ich mit 54 Jahren ernsthaft weder Aristoteles noch Hegel gelesen habe. Es ist nicht nur, daß sie mir gleichgültig sind, ich mißtraue ihnen.« Canetti, dessen Bücher bei Hanser erscheinen, wird in seiner Verweigerung allem wie von selbst Fließendem und großartig Bedeutungsschwerem gegenüber in diesem Land als etwas Halbexotisches akzeptiert. Aber er wird kaum ernst genommen, geschweige denn wirklich geliebt. Das kommt daher, dass Canetti von einer im Deutschen vergessenen oder bewusst verdrängten Position aus schreibt: Des Eremiten in der Masse. Darum kreist all sein Denken der späten Bücher. Wie kann Geist der Macht widerstehen, wie ist moderner Stoizismus möglich - und um welchen Preis? Um einen hohen. Den des Missverständnisses auf der Grenze zur Missachtung. Das gilt es aushalten. Wie er in »Die Fliegenpein« schreibt: »Das eigentliche geistige Leben besteht im Wieder-Lesen.« Man muss seinen Irrtümern die Möglichkeit geben, sich selbst zu begegnen. So bekommt das Leben eine geistige Qualität. Allen Gefahren für den Geist zum Trotz, gilt es ihn in Bewegung zu halten. Denn es gibt in dieser Welt keine Haltegriffe. Die größte Gefahr ist demnach das Alter, der geistlose Stillstand, im Glauben, etwas Wertvolles festzuhalten. Kurz vor seinem Tod notiert er: »Im Alter werden die Vorurteile gefährlich. Man ist stolz auf sie. Man ist ihnen dankbar, so als wären sie es, die einem das Leben bewahrt haben.« Aber das schönste Bild für die ewige Revolte des Lebens gegen den Tod hat Canetti in »Die Stimmen von Marrakesch« gefunden. Auf dem Markt in Marrakesch sieht er einen Esel. Er war »von allen armseligen Eseln dieser Stadt der ärmste«. Übel geschlagen steht er zitternd da, die »Knochen standen ihm heraus, er war ganz verhungert, sein Fell abgeschabt, er war sicher nicht fähig, die kleinste Last zu tragen.« Er steht in Erwartung des Todes, der für ihn bald kommen muss. Aber stattdessen passiert mit dem Esel etwa anderes, das Canetti mit großem Jubel vermeldet: »Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt, aber es war nicht mehr derselbe Esel. Denn zwischen seinen Hinterbeinen, schräg nach vorn, hing ihm plötzlich ein ungeheueres Glied herunter. Es war stärker als der Stock, mit dem man ihn nachts zuvor bedroht hatte.« Die Lust überwindet den Tod, wenn auch nur für Momente. Aber es ist für Canetti damit etwas Entscheidend...

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