nd-aktuell.de / 16.11.1995 / Politik / Seite 16

Wenn Angst den Spielplatz regiert

Raufereien werden immer öfter von blutigen Schlägereien abgelöst

Ein 13jähriges Mädchen wird Ende Oktober im nordostsächsischen Weißwasser von zwei Altersgefährtinnen brutal mißhandelt und schwer verletzt. Die beiden 15jährigen Schülerinnen schlagen 1 das Kind mit einem scharfkantigen Ring und treten es mit Füßen, angeblich weil es sie beleidigt hat. Auf einem Spielplatz in Zittau schlagen zwei Halbwüchsige im Alter von 13 und 14 Jahrep einen Elfjährigen zusammen. Das Opfer wird mit schweren Verletzungen in ein Krankenhaus eingeliefert.

Die beiden spektakulären Fälle aus jüngster Vergangenheit ließen die Öffentlichkeit aufhorchen. Doch das sächsische Landeskriminalamt (LKA) registrierte im vergangenen Jahr 137 Körperverletzungen, die von Kindern begangen wurden. Hinzu kamen 647 derartige Straftaten, die auf das Konto von Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren gehen.

„Wir beobachten in allen Bereichen eine steigende Kinderund Jugendkriminalität“, berichtet LKA-Sprecher Lothar

Hofner. Auch die Zahl der sogenannten Roheitsdelikte habe „merklich“ zugenommen. Die Täter gingen immer brutaler gegen ihre Opfer vor. Verletzungen 'werden nicht selten einkalkuliert. Harmlose Schulhofraufereien, wie sie auch zu DDR-Zeiten an der Tagesordnung waren, sind inzwischen von knallharten Schlägereien abgelöst.

Wenn nach Ursachen gefragt wird, wird häufig der Mangel an Freizeitmöglichkeiten genannt. Im Oberlausitzkreis gibt es nach Angaben des Landratsamtes jedoch ein „flächendeckendes Netz“ von Kinderund Jugendeinrichtungen. Die Zahl der etwa 50 Einrichtungen habe sich im Vergleich zu DDR-Zeiten kaum verringert. Vielmehr beklagt das Jugendamt, die Angebote in den einzelnen Häuser würden von den Kindern und Jugendlichen nur wenig angenommen.

Zahlreiche Halbwüchsige wissen offenbar wenig mit sich und ihrer Freizeit anzufangen. Orientierungslosigkeit hat sich vielerorts breit gemacht, nicht

zuletzt im familiären Umfeld. Nicht wenige Eltern sind zu sehr mit sich und ihren Problemen beschäftigt, als daß sie ihren Schützlingen Anregungen für eine sinnvolle Freizeit geben können.

Viele Kinder bleiben sich selbst überlassen, werden durch Computerspiele, Fernseh- oder Videofilme „ruhiggestellt“ Bücher sind aus der Mode gekommen, Actionfilme dagegen „in“ Mitunter haben die Eltern überhaupt keine Ahnung, was über den Bildschirm flimmert. Vor allem am Wochenende verbringen die Sprößlinge mehrere Stunden vor der Mattscheibe. Frust und Energie, die sich durch mangelnde Bewegung anstauen, werden dann zumeist im Klassenzimmer abgebaut. Unter Pädagogen ist das „Montagssyndrom“ mittlerweile ein gängiger Begriff. Die meisten Lehrer wissen, daß sie sich zu Beginn der Woche mit äußerst aggressiven Schülern herumärgern müssen.

ANETT BOTTGER, ADN