nd-aktuell.de / 16.11.1995 / Brandenburg / Seite 19

Lebenslustig wütend

Kuba hatte in der DDR immer den Ruf, daß hier der Sozialismus wirklich stattfinden würde, meint Torsten Schulz zu Beginn seines Dokumentarfilmes „Kuba Sigrid“ Daraufhin bricht Sigrid Serrano Mesias, die 1979 die DDR verließ und seither in Kuba lebt, in schallendes Gelächter aus. Dieses zugleich lebenslustige, wütende und zynische Lachen wird den ganzen Film durchziehen, wird dessen unheimlich intime, authentische Grundstimmung ausmachen. Schulz lernte Sigrid am Rande von Havanna kennen. Hier fristen sie, ihr Sohn Enrico, ihr Ehemann Juan und ihr Geliebter Hacinto in einer eigenartigen Symbiose ihr kümmerliches Dasein in einer windschiefen Kate. Alle gemeinsam leben von dem, was Juan im Zentrum Havannas erbettelt. Das sind meistens ein paar Dollar von den Touristen, und die braucht die Familie zur Beschaffung des Notwendigsten.

Juan ist ein Krüppel. Vor Jahren hatte ihm ein Bus die Beine abgefahren und die Revolution ihn fallengelassen. Er bekommt eine winzige Rente. Die Fotos mit Castro und seine Auszeichnungen sind nur so viel wert, daß sie ihm das Betteln gestatten, denn könnte er sie der Polizei nicht vorweisen, würde die ihn verjagen. Trotzdem, Juan hält an der Revolution fest. Enrico will nach Deutschland, in das Land der Mutter. Geprägt ist sein Deutschlandbild von Werbeprospekten, die er auf dem Müll gefunden hat und in ein Buch einklebt. Sigrid weiß von ihrem Heimatland, in das sie trotz aller Schwierigkeiten scheinbar nicht zurück will, nichts mehr Sie lebt in Kuba,, ist mit ihrem ganzem Habitus Kubanerin, eine wunderbare Frau. Sie hat sich trotz des täglichen Überlebenskampfes eine bewunderswerte Leichtigkeit erhalten, sich eine eigene Welt zwischen Voodoo-Kult und privater Lebensphilosophie geschaffen. Seit Jahren spricht sie das erste Mal wieder deutsch und mit der Sprache stellen sich Erinnerungen ein an die Mutter, die Arbeitskollegen, ihre drei Kinder, die sie in Berlin zurückließ, weil sie nicht mitwollten, und erstauntes, beiläufiges Interesse am heutigen Deutschland.

Torsten Schulz und Kameramann Rene Jung lassen sich auf die Familie, das Schicksal Sigrids ein. Schulz stellt sachte und sparsam Fragen, wartet bis Sigrid erzählt. Jung gebraucht die Kamera so, daß sie unaufdringlich, ganz normal dabei ist. Das macht die Bildsprache weich, beinahe poetisch. Man nimmt am Alltag teil, fühlt sich als Gastfreund unter offenen Menschen, ohne beflissene Dramatisierung. Die Not, in der die Familie lebt, Juans Krüppel-Dasein, wird nicht zum Trauerfall sondern lebt von einer unaufdringlichen, dramatischen Schönheit, wie sie im Dokumentarfilm selten ist. MARIO STUMPFE