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  • Politik
  • Brüssel Projekt: „Der Held der Frauen

Erinnerung durch Unmenschlichkeit

  • Lesedauer: 4 Min.

Irgendwo im Innern von Polen gibt es ein Geheimnis, das eine deutsche Behörde unter allen Umständen für sich entdecken will. Ein polnischer Ingenieur namens Lotcek hatte dieses Geheimnis einst erschaffen und ist nun für keine DM der Welt bereit, es zu verkaufen. Also muß die Behörde andere Wege und Mittel finden, Lotcek zu überreden. Zum guten Zweck werden erfahrene Agentinnen nach Polen verbracht, mit dem Auftrag, frauliche Finesse walten zu lassen, das Geheimnis zu entlocken und dem Mann das Lebenslicht auszublasen. Was die Agentinnen Anita (Sigrid Spachtholz), Anja (Antje Rose) und ihre Führungsoffizierin Frau Mutter (Anette Klar), die 'früher an der Friedrichstraße Dienst taten, jedoch nicht wissen, ist, daß nicht der imaginäre Lotcek das Opfer sein soll, sondern Anita und Anja. Denn der am Mammon desinteressierte Ingenieur ist ein bekannter Frauenmörder, und die Behörde will ihn mit zwei Bauernopfern anfuttern, um ihn an den Haken zu bekommen.

Die Geheimdienstlerstory ist für die neueste Produktion des Autors und Regisseurs Matthias Wittekindt, „Der Held der Frauen“, nur die Verpackung, der Haken, an dem die Zuschauer anbeißen sollen. Sie wird nicht als durchgängige, kontinuierliche Fabel entwickelt, sondern nur hin und wieder eingestreut. Ein Wort hier, ein Wort da verweist auf eine Story, die für die Inszenierung nebensächlich ist, die es eigentlich nur den blinden Hühnern im Zuschauerraum ermöglicht, auch mal ein Korn zu finden, weil herkömmliche Erwartungshaltungen und Wahrnehmungsweisen bedient werden. Die wirkliche Geschichte findet woanders statt, ist keine zusammenhängende Fabel, sondern eine diskontinuierliche Reihung von in sich gebrochenen Zeichenketten, von machtvollen Unterwerfungszeichen. Das Material, das rituell bezeichnet wird, sind die Frauen, und die Behörde ist eine namenlose Einrichtung, die beschreibt, die den Frauenkörpern ein habituelles Regelwerk überstülpt, nach dem sie zu funktionieren haben.

Der Mechaniker an der Frau ist Herr Käfer (Martin Peter). Der ist nicht nur ein Dresseur und Überläufer, sondern auch der einzige, der zu Gefühlen überhaupt in der Lage ist, der sich vom Techniker an der Frau in einen Menschen zu verwandeln droht, der zu emotionalen Regungen fähig ist. Und hier wird klar, daß Wittekindt nicht nur die Frau als Opfer gesellschaftlicher, männlich dominierter Bezeichnungsvorgänge sieht, sondern daß die objektivierte Frau, der Gegenstand, auch die zu Gegenständen macht, die sie nach ihrem Bild erschaffen haben. Die Männer in dieser Gesellschaft sind keineswegs weniger Objekte, sind gefangen in genau dem Korsett, das sie den Frauen anmessen. Und Objekte wie die Chefin des Ganzen, Frau Dr Regler (Inga Dietrich), und ihr Anhängsel Herr von Tannenberg (Johannes Hupka) haben durchaus Spaß dabei. Das allerdings nur, weil sie sich für Macher halten, obwohl sie längst die Gemachten sind, so verkrüppelt, daß sie auch die letzte Erinnerung an einen Subjektstatus ihrer Person unwiderbringlich verloren haben.

Foto: Marcus Lieberenz

Matthias Wittekindts Theater ist unmenschlich. Aber gefade diese Unmenschlichkeit erinnert die Verluste, fordert auf, Menschliches wiederzufinden. Es ist realistisch, obwohl es nicht auf Realität im herkömmlichen Sinn abfährt. Es gibt keine Tiefendimension, keine Wahrheit, es gibt nur Wirkungen, die sich chaotisch kreuzen und deren Ursachen nicht festzumachen sind, sich verselbständigt haben. Es ist ein kopflastiges Theater der unpersönlichen Zeichen und Bedeutungen, die frei im Raum flottieren. Sowohl der Text als auch die Darstellung surren wie ein Uhrwerk, funktionieren außerhalb aller Regeln des Mediums, aber genau nach den Regeln der Gesellschaftsmaschine. Wittekindt ist der Beweis dafür, daß auch intelligentes, intellektuelles Theater spannend sein kann. MARIO STUMPFE

Mehnnghof-Theater , Gneisenaustr. 2 a, Kreuzberg, Tel. 691 50 99: Do-So, Mi: Valtorta/ München: „Mord?“ (20.30 Uhr) Pfefferberq . Schönhauser Allee 176, Prenzlauer Berg, Tel. 449 65 34: Fr/Sa: „Mach mir den Wessi“ (19 Uhr) Potsdamer Kabarett am Obelisk,

Schopenhauerstr. 27, Tel. 210 69: Do-So: „Vakuum Marsch“ (20, So 19 Uhr)

Di/Mi: „Spur der Scheine“ (20 Uhr) Satiretheater „Kneifzange“ , Friedrichstr. 95, Mitte, Tel. 209 622 36:

Do-Sa, Di/Mi: „Verarscht nach Quoten“ (20 Uhr)

Mo: „Deutschland, Deutschland, ist das alles?“ (20 Uhr) Schlot . Kastanienallee 29, Prenzlauer Berg: Do: „Love-Call-Cabaret“ (21.30 Uhr) Di: New Comedian Harmonists-(21.30 Uhr)

Mi: „Surprise ist heiß“ (21.30 Uhr) Zimmertheater Karlshorst . Treskowallee 112, Tel. 429 71 16: Fr/Sa: „Das Leben ist gar nicht so, es ist ganz anders“ (20 Uhr)

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