nd-aktuell.de / 18.11.1995 / Politik / Seite 5

Geld ist genug da! Aber wo?

Wer gegenwärtig Forderungen an den Staat oder an die Unternehmen richtet oder sich nur für die Bewahrung gesellschaftlicher Errungenschaften - wie einer breiten Bildung für alle oder einer allgemeinen Gesundheitsvorsorge - einsetzt, bekommt zu hören: „Es muß gespart werden“. Da wagt mensch gar nicht mehr zu fragen: „Ja, wofür.denn?“ Dabei wachsen Produktivität und Produktion in Deutschland weiter. Und am Export ist auch ganz gut zu verdienen. So stiegen die Löhne von 1982 bis 1992 um 10,5 Prozent, die Gewinne um 123 Prozent.

Jetzt geht es um Senkung des Reallohns, Kürzung von Sozialleistungen, Beschneidung von Bildungs- und Kulturetats, Einschränkung von Umweltschutz und Entwicklungshilfe. Die Kommunen werden gezwungen, Aufgaben zu reduzieren, öffentliches Eigentum zu veräußern, um Haushaltslöcher zu stopfen. Nur der Verteidigungsetat soll steigen: 1996 auf 48,42 Milliarden DM, das sind 561,03 Millionen DM mehr als 1995.

Geld ist genug da. Das US-Magazin „Forbes“ stellt alljährlich zusammen, wer welt-

weit zum Club der Milliardäre zählt. Das sind mittlerweile 358 Mitglieder (1994), 42 davon in Deutschland. Zu den 25 Reichsten der Welt gehören die deutschen Familien Albrecht (Aldi), Henkel, Quandt, Tengelmann. In Deutschland stiegen die privaten Einkünfte allein aus Zinsen und Dividenden 1994 auf 208,8 Mrd. DM - dreimal so viel wie 1980. Das heißt: Jeder Selbständige in Deutschland zog 18 385 DM aus Zinsen und Dividenden zog, Arbeiter nur 3 086 DM.

Zehn Millionen Bundesbürger leben in Armut, vor allem Obdachlose, Arbeitslose, Alleinerziehende, Sozialhilfeempfänger und viele Rentner. Über eine Million Kinder und Jugendliche leben schon von der Sozialhilfe. Reichtum und Armut nehmen dabei immer mehr zu, denn die Umverteilung von unten nach oben ist Politik in diesem Lande: Staatliche Steuerpolitik, Wohnungs- und Wirtschaftspolitik begünstigt die Reichen. Und die Konzerne, nicht den Mittelstand.

Reichtum ist auch bei Banken und Versicherungen gewachsen: Die Deutsche Bank machte 1993 einen Gewinn von 8,552 Mrd. DM, im Jahr

davor (1992) 6,463 Mrd. DM. Ähnlich ist es bei Versicherungen, Chemie- und Energiekonzernen und anderen Großunternehmen. Rund 900 Mrd. DM jederzeit verfügbare Mittel wurden angehäuft, aber nicht zur Schaffung von Arbeitsplätzen oder für den „Aufbau Ost“.

Über diese Zusammenhänge und Fakten wird selten geredet. Es gibt Armuts-, aber keine Reichtumsberichte. Der öffentliche Wohlstand wird systematisch ruiniert, der Sozialstaat zerstört. Was ist dagegen zu tun? Dieser Frage wird nachgegangen in der' reichsten Region der EG, in Hamburg. Hier ist das durchschnittliche Einkommen fast doppelt so hoch wie im übrigen Westeuropa. Gleichzeitig leben 30 Prozent der Einwohner am Rande des Existenzminimums. Hier also findet an diesem Wochenende eine Konferenz unter dem Motto „Geld ist genug da!“ statt. Wissenschaftler und Gewerkschafter, Vertreter von Sozialverbänden und linken Gruppen diskutieren über den „Sozialpolitischen Ratschlag zum Reichtum in Deutschland“

HORSTBETHGE