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  • Gedanken von RUDOLF BAHRO, der heute 60 wird: „Dem Geist des Ganzen eine neue Chance“

Staatsideen sind Ich-Krücken

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Der Weg der Rettung beginnt damit, die zivilisatorische Krise in ihrem Wesen, in ihrer ganzen Tiefe und in ihrer erbarmungslosen Aussichtslosigkeit zu erfassen. Die materiellen Trägheitskräfte sind ungeheuer, und zwar historisch beispiellos. Es ist, als wollten wir uns mit Tonnen Blei an den Füßen aus einem Schiffbruch retten. Allzuviel New-Age-Optimismus, im Mercedes oder per Flugzeug zu allerhand Workshops unterwegs, vergißt geflissentlich den schnöden Massenfaktor unterm Allerwertesten. Dann ist es leichter, den Schatten des Kreuzes nicht wahrzunehmen, der über allem liegt.

Wir haben die Wirkungslosigkeit der Umweltkosmetik und den makabren Charakter des ökologischen Ablaßhandels erfahren. Wir ahnen den einen > verhängnisvollen Zusammenhang, der das ganze innere Milieu unseres Gesellschaftskörpers bestimmt. Es ist auch klar, daß wir da - obwohl

auf neue Weise - etwas sehr Altem begegnen, daß das Verhängnis immer mit uns war. Nur worin es besteht, davon sehen wir immer noch am liebsten weg: nach außen und auf andere Schuldige und Verantwortliche als uns selbst. Unser Verbrauch ist in seiner Größenordnung unhaltbar. Um zu begreifen, daß wir ihn herunterschrauben müssen, muß die Logik der Selbstausrottung voll ans Licht (...)

Inzwischen sind alle unsere erlernten Lebens- oder Selbstbehauptungsgrundsätze und -gewohnheiten und unsere zugehörigen politischen Spiele unvereinbar mit unseren Lebensinteressen. (...)Die Kalamität liegt so sehr im Ganzen, daß wir nur an irgendeiner unserer schönsten Errungenschaften ordentlich festhalten müssen, um uns schon de facto so zu verhalten, daß alles beim

alten bleiben muß, soll diese eine Blüte nicht verlorengehen. Und wie oft wollen wir gefühlsmäßig lieber zugrunde gehen als auf irgendein wohlerworbenes Kulturgut auch nur im Gedankenexperiment zu verzichten^...)

Es wäre lächerlich, sich darauf herausreden zu wollen, daß gerade die eigene kleine Unterfunktion, isoliert genommen oder so wie wir sie oberflächlich moduliert betreiben, nicht schädlich sei. Niemand kann zwei Herren dienen. Entscheidend kann sich der Umschwung nur in der abertausendfachen persönlichen Begegnung und Auseinandersetzung, nicht zuletzt mit dem eigenen weit-, d. h. megamaschinenangepaßten Ich. Die Fronten verlaufen nicht so sehr zwischen als vielmehr in den Menschen, und die Bewußt-

seinsspaltung in Richtung Aussteigen und Überlaufen, in Richtung Verrat und Verlangsamung der institutionellen Aktivitäten ist der erst einmal wichtigste Vorgang.

Wir lieben die tröstlichen Ausflüchte, selbst wenn sie ganze-Wochenenden, etwa an den Bauzäunen, kosten, wo der Einsatz nichts mehr bringt von geringerem Ablaß ganz zu schweigen. Die die Gefahr erkannt haben, brauchen vor allem die richtigen Verzweiflungen, d. h. sie müssen wissen, was nichts nützt, damit sie ihre Kraft nicht in folgenlosen oder mitunter sogar gegenläufigen Aktivitäten verschleißen. An den Symptomen entlang gibt es keinen Rettungsweg, und wer auch jetzt noch daran überhaupt erst einmal oberflächlich aufwacht, darf kein Lob mehr ernten.

Alle Ideologien des bürgerlichen Zeitalters - selbst die „illegitimen“ wie Anarchismus, Feminismus, sogar Ökologismus - sind angesichts des wahren Charakters der ökologischen Krise (als vom Machtwilligen des bürgerlichen Individuums verursacht) mindestens unzulänglich.

Die drei genannten denunzieren zwar die Macht und ihren Mißbrauch, geben auch einige Hinweise, wie man Machtkonzentrationen vermeiden könnte. Aber der Machtwille kann - wegen seines Schubs aus den Persönlichkeitstiefen - nicht politisch begrenzt werden, es sei denn, er würde zuvor kulturell und d. h. primär spirituell begrenzt. Insbesondere müssen die Kinder von Geburt auf anders behandelt werden, als es eine Leistungsgesellschaft tut. Sie brauchten eine Art Isolierung von der

„Welt“, wie der kleine Parzifal. Die mit den Ideologien verbundenen Utopien bedeuten alle mehr oder weniger, daß wir auch in der neuen Situation wieder nach „einem Staat suchen, der zu uns paßt“, d. h. auch unsere alten Vorurteile mitbestätigt und unseren Verhaltensmodus begünstigt. Alle unsere überlieferten Staatsideen sind Ich-Krücken und (Gegen-)Machtansprüche, die wir verabschieden sollten.

RUDOLF BAHRO, Philosoph und Sozialökologe, wurde 1977 (nach Erscheinen seines Buchs „Die Alternative“ in der BRD) wegen „Verdachts geheimdienstlicher Tätigkeit“ verhaftet und zu acht Jahren verurteilt. 1979 Abschiebung in den Westen. 1989/90 Rückkehr in die DDR. Professur an der Humboldt-Universität Berlin. Obiger Beitrag steht vollständig in „Rudolf Bahro -Apokalypse oder Geist einer neuen Zeit“, soeben erschienen bei Edition Ost, Berlin.

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