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Nachdenken über Trauer

  • Dr. WOLFGANG KAUL
  • Lesedauer: 6 Min.

Käthe Kollwitz, Pieta Foto: Joachim Fieguth

Großfamilie, in der Trauer erlebt und ausgelebt werden konnte. Mitglieder verschiedener Generationen haben so Sterben und Tod sowie die damit verbundene Trauer als ebenso zum menschlichen Leben gehörend verstanden wie sie das Geborenwerden und die erwartungsvolle Freude erlebten. Beide Ereignisse galten als Eckpunkte eines jeden Lebens.

Die international hochgeachtete Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross berichtet in ihrem Buch „Interviews mit Sterbenden“ über ein Kindheitserlebnis. Es belegt die wohltuende Wirkung der Großfamilien. „Ich erinnere mich an den Tod eines Bauern in meiner Kindheit. Er fiel vom Baum und wurde tödlich verletzt. Seine einzige Bitte, daheim sterben zu dürfen, erfüllte man sofort. Nacheinander rief er jede Tochter ans Bett, um ein paar Minuten mit ihr allein zu sprechen. Trotz großer Schmerzen ordnete er ruhig seine Angelegenheiten und verfügte über das Hab und Gut, das zu Lebzeiten seiner Witwe nicht aufgeteilt werden sollte; er bat jedes Kind, die Arbeiten und Pflichten auf sich zu nehmen, die er bis zu seinem Unfall selbst geleistet hatte. Seine Freunde wurden gebeten, ihn noch einmal zu besuchen, und obwohl ich damals noch klein war, nahm er mich und meine Geschwister von diesem Abschiedsbesuch nicht aus. Wir durften an den Vorbereitungen der Familie und an ihrer Trauer teilnehmen. Als der Bauer gestorben war, blieb er bis zur Beerdigung in dem Haus, das er selbst gebaut und sehr geliebt hatte, blieb unter Freunden und Nachbarn...

Ich berichte so ausführlich von dieser .altmodischen' Sitte, weil sie nach meiner Ansicht zeigt, wie man das unausweichliche Ende, des Lebens würdig annehmen kann; sie hilft dem Sterbenden und seiner Familie, die sich mit dem Verlust abfinden muß... Wenn man den Kindern gestattet, in dem von einem Unglück getroffenen Haus zu bleiben und sich an Gesprächen und Sorgen zu beteiligen, läßt man sie mit ihren Ängsten nicht allein, sondern gewährt ihnen den Trost, daß sie an der gemeinsamen Verantwortung und Trauer teilhaben. Es bereitet sie darauf vor, den Tod als Teil des Lebens aufzufassen, und läßt sie an dem Erlebnis wachsen und reifen.“ (S. 12 ff.)

Derartige soziale Strukturen als Voraussetzung für „unbefangenes“ Erlebnis von Sterben und Tod und einen entsprechenden Umgang mit der Trauer gibt es wohl nur noch als Ausnahme. Die Mitte des

19 Jahrhunderts in Mitteleuropa einsetzende Industrialisierung und die damit verbundene Urbanisierung ließen innere Beziehungen der Großfamilien zerfallen. Dieser Prozeß ist unumkehrbar. Auf der sozialökonomischen Basis moderner Marktwirtschaft entwickeln sich nunmehr ihre entsprechenden Mechanismen, die dazu führen, daß die Ausgrenzung von Sterben, Tod und Trauer aus dem gesellschaftlichen wie auch aus dem individuellen Bewußtsein in raschem Tempo, immer neue Erscheinungsformen hervorbringend, fortschreitet. Sterben und Tod als der Abschluß

eines jeden menschlichen Lebens werden aller menschlichen Werte beraubt, Trauer als seelische Verarbeitung der durch den Tod verlorenen zwischenmenschlichen Beziehungen verdrängt, anonymisiert.

Zu fragen ist, ob und wie allein unter Beachtung dieser Entwicklungen zu einem zeitgemäßen menschenwürdigen Umgang mit dem Sterben und mit dem Tod zurückgefunden werden kann und wie ein den Menschen hilfreiches Trauerverhalten auszubilden sei.

Während der letzten Jahrzehnte hat in allen hochentwickelten Ländern der Erde die Medizin einen gewaltigen

Entwicklungsschub erlebt. Unzählige Menschen zumindest dieser Länder haben dadurch an Lebensqualität gewonnen. Zugleich wird aber die innere Widersprüchlichkeit dieser Entwicklungen stärker spürund sichtbar. Kritisch wird zu fragen begonnen, ob die moderne Medizin auch tatsächlich alles tun darf, wozu sie in der Lage ist. Lebenserhaltung, Lebensverlängerung um jeden Preis, gerichtet auf den Erhalt unerläßlicher physiologischer Funktionen bei gleichzeitigem Verlust an Eigenverantwortlichkeit, Selbständigkeit des Entscheidens und Handelns, also der selbstbestimmten

Menschenwürde werden mit Nachdruck hinterfragt. Daraus erwachsene Ängste anerkennen auch Mediziner. Die interdisziplinär geführte Auseinandersetzung richtet sich einerseits auf die Anerkennung von Patientenverfügungen, andererseits auf solche Fragen wie die Stellung zu Sterbebegleitung, passiver und/oder indirekter Sterbehilfe, auf Freitod und/oder Beihilfe zum Freitod sowie auf aktive Sterbehilfe (oder auch Tötung auf Verlangen).

Damit zusammenhängende juristische Fragen werden nicht nur in europäischen Ländern mit sehr unterschiedlicher Akzentuierung gestellt. Wiederholt verweisen Wissenschaftler darauf, daß die inhumane Behandlung von Sterbenden nicht mit künstlicher Verlängerung des Lebens noch mit dem Verweigern lebenswichtiger Stoffe beginnt. Inhumane Behandlung'Sterbender beginnt da, wo dem Kranken oder Alten, vielleicht viele Monate vor der eigentlichen Sterbestunde, die innere Gemeinschaft entzogen wird. Sie besteht jedoch in der Regel zwischen den nahen Angehörigen und dem Sterbenden. Sie könnten einem vertrauten, nahen Menschen in seiner beschwerlichen letzten Lebensphase ein Stück Lebenshilfe leisten. Mit einer solchen Begleitung begänne zugleich ihre innere Ablösung vom Sterbenden, ein wichtiges Stück der von ihnen zu leistenden Trau-

firarhfiit.

Andererseits kann die nicht erbrachte Begleitung auf dem letzten Lebensabschnitt dazu beitragen, eine bereits vorhandene Verdrängung von Trauer zu befestigen. Sigmund Freund machte aufmerksam, daß im Grunde jeder an seine eigene Unsterblichkeit glaube. Er überträgt diese Denkweise auf den Umgang mit sterbenden Angehörigen, und er erlebt dann bei Eintritt des Todes einen schweren Zusammenbruch.

Zeitgenössische Psychologen verstehen deshalb die Trauer als notwendig und als lebenserhaltend, sie muß aktiv durchlebt werden. Normal erlebte Trauerarbeit sollte mehrere Aufgaben lösen:

- Der erlittene Verlust eines geliebten Menschen muß akzeptiert werden.

- Damit verbundener seelischer, mitunter auch körperlicher Schmerz muß durchlitten und akzeptiert werden.

- Neue Lebensziele, nunmehr ohne vertraut gewesene Menschen, müssen gefunden und zu verwirklichen versucht werden.

- Trauernde müssen sich wieder für andere Menschen öffnen.

Eine Mehrheit stirbt an altersbedingter Erkrankung oder weil die Lebenskraft aufgebraucht ist. Eine weitere in ihrem Ende einsehbare Ursache für Sterben und Tod sind die unheilbaren Erkrankungen, sie können in jedem Lebensalter, auch in dem von Kindern auftreten. In der Regel können sich die Angehörigen Sterbender also auf das bevorstehende Ableben einstellen. Sie müssen allerdings um den zu erwartenden Tod wissen oder er muß ihnen bewußt gemacht werden. Zugleich sollen sie sich bewußt sein, daß humaner Umgang mit Sterbenden nicht nur Aufgabe der Medizin ist, sondern daß er in dieser Lebensphase auch dadurch bestimmt wird, die innere Gemeinschaft der Angehörigen mit den Sterbenden zu erhalten und zu intensivieren. Sie bedürfen bis zum letzten Atemzug der liebevollen Zuwendung, auch dann noch, wenn sie bereits in der Agonie liegen und scheinbar nichts mehr wahrnehmen.

Ein solches Vorgehen fordert, daß Angehörige bereit dazu sind und daß sie die dafür erforderliche Zeit und Kraft aufbringen können. Es fordert zudem unerläßliche materielle Voraussetzungen, beispielsweise Einzelzimmer für Sterbende und ihre Angehörigen in den Krankenhäusern oder Heimen oder das Vorhandensein von Sterbekliniken. In einer solchen durch Zuwendung bestimmten Weise könnte dem Sterben und der Trauer auch in der dem Sterbenden vertrauten häuslichen Umgebung begegnet werden. Unerläßlich ist in jedem Falle die Bereitschaft behandelnder, betreuender Ärzte, mit den Angehörigen in einfühlsamer Weise offen über den in Kürze eintretenden Tod zu sprechen, ihnen bei der so beginnenden Trauerarbeit beratend, helfend zur Seite zu stehen.

Darüber wird seit Jahren bei wachsender Teilnahme und Zustimmung gesprochen, beraten, dennoch stehen die nötigen Auseinandersetzungen erst am Anfang. Neben dem Hinweis auf oft fehlende Voraussetzungen werden medizinische, medizin-ethische und juristische Fragen aufgeworfen. Nötig ist, endlich wieder Menschlichkeit in ihrem besten Wortsinn in den Umgang mit dem Ende eines jeden individuellen Lebens einziehen zu lassen.

Dr Wolfgang Kaul (68) ist Religionssoziologe und weltlicher Trauerredner Er wohnt in Rostock.

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