Amnesie in litteris

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.
Bücher auf der Abraumhalde: Jeder, zumindest im Osten, weiß um den Vorgang aus dem Jahre 1990, der bald schon Symbolkraft bekam bezüglich jeglicher DDR-Hinterlassenschaft. Der Leipziger Grafiker Joachim Jansong, einst Professor an der Hochschule für Graphik und Buchkunst, hat wohl eine eigene Erfahrung - warum nicht sagen: einen eigenen Schmerz - in dieses Bild gebracht. Keine Illustration zum Text von Patrick Süskind, sondern eine Hinzufügung. »Amnesie in litteris« - das ist für den Autor von »Das Parfüm« ein höchst privater, ja intimer Vorgang. Sich an Gelesenes nicht erinnern zu können - eine peinliche Situation wird hier selbstironisch auf die Spitze getrieben. In Verlegenheit gesetzt durch die Frage, welches Buch ihn denn besonders beeindruckt hätte, gerät der Ich-Erzähler immer tiefer in Erklärungsnot. Weder Autoren noch Titel fallen ihm ein. Alles Wissen wie weggeblasen. Da greift er aufs Geratewohl in sein Buchregal, nimmt einen Band heraus, blättert - und ist schon gefangen: »... bin nur noch konzentrierte Begierde auf das Köstliche und völlig Neue.« Jemand hat treffende Anstreichungen gemacht, »mein lesender Vorgänger«. Wie verblüfft ist er, als er an einer Randbemerkung die eigne Handschrift erkennt. Das heißt, er hat das Buch erneut wie zum ersten Mal gelesen! Welches Glück eigentlich. Wie gut ich das kenne! Diese Verblüffung, diese Irritation - und diesen Jubel, wenn Sätze wie Sternschnuppen aufflammen. Solches Licht hält man nicht fest. Was Patrick Süskind den »Lethestrom« des Vergessens nennt, erklärte ich mir bislang aus der Überdosis von Lektüre. Mitunter zwei Bücher pro Woche, das ist nicht normal. Weil der Kopf frei sein muss für Neues, wird anderes weggeschoben. Aber ganz so einfach ist es wohl nicht, Süskind erklärts mir - wie köstlich, wie tröstlich! -, dass es wahrscheinlich an der Art des Lesens liegt. Auf dem Buchumschlag ein menschliches Gehirn. Die Schrift trifft aufs Auge, wohin aber sinken die Bilder und Gedanken? Was geschieht, woran wir uns nicht erinnern können? Hat der literarische Gedächtnisschwund vielleicht einen Sinn? Aber dieser Band lebt nicht nur vom Text allein. Dass Gelesenes in Tiefenschichten des Bewusstseins unbemerkt sein Werk verrichtet - dieser Gedanke ist hier auf unnachahmliche Weise in Gestaltung übersetzt. Verschiedene Drucktechniken überlagern sich: Hinter der Süskind-Erzählung sind Auszüge aus Werken der Weltliteratur »versteckt«. Auch die Grafiken Joachim Jansongs haben mit Schichten zu tun, mit Baum-, Gesteins und Tapetenschichten, sogar mit Schichtaufnahmen des Gehirns. Es sind Collagen, die zum einen als Originalradierungen geätzt und gedruckt wurden, zum anderen als durchscheinende Offsetgrafiken auf Transparentpapier als weitere »Schicht« zwischen die Seiten geheftet sind. Ein Buch also, das in seiner aufwendigen Gestaltung auf dem Markt seinesgleichen sucht. Von Hamburg bis Prag haben Meisterdrucker in Handarbeit daran mitgewirkt. Von jedem Quadratzentimeter strahlt die Begeisterung des Verlegers. Ein Buchkunstwerk. Es hat Kraft, es kann Wirkung entfalten - wie jener Torso Apollos in Rilkes Sonett. Natürlich hat Süskinds Ich-Erzähler Autor und Titel vergessen, doch der letzte Satz verfolgt ihn auf Schritt und Tritt: »Du mußt dein Leben ändern.« Sich verändern beim Betrachten einer Statue oder wenn man, wie Süskind schreibt, »Hals über Kopf« in einem Text versinkt: Wer weiß schon, wie das geschieht. Wie vermeintlich Verschüttetes weiterlebt - im Einzelnen wie in der Gesellschaft. Nichts wäre verloren - was für ein Wunsch! Patrick Süskind: Amnesie in litteris. Mit Illustrationen von Joachim Jansong. Officina Ludi. 36 S., Leinen im Schuber, 180 EUR.
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