Solidarität mit dem Kanzler ist keine Aufgabe der PDS

Gregor Gysi über Anti-Hartz-Proteste, politische Notfälle und Debatten der Linken ohne Kriegsbemalung

  • Lesedauer: 12 Min.
ND: Demonstranten fordern »Hartz IV muss weg!« - Zustimmung?
Gysi: Ja. Damit ist ein Symbol und die Richtung einer Politik gemeint, die überwunden werden muss. Man kann und soll eine Gesellschaft nicht auf Kosten der Alten, Kranken und Arbeitslosen sanieren.

Kann Hartz IV noch kippen?
Wohl nicht. CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP sind sich in der neoliberalen Ausrichtung ihrer Politik einig. Die meisten Medien und Wissenschaftler teilen deren Kurs, die Wirtschaftsverbände sowieso.

Gibt es denn noch eine Chance, Hartz IV zu entschärfen?
Auch die ist kaum real. Dazu müssten die Proteste noch viel umfangreicher werden.

Sind die Demos nutzlos?
Auf keinen Fall! Die Demonstrationen machen öffentlich klar, dass hier etwas gegen den Willen großer Teile der Bevölkerung geschieht. Das könnte die Regierung vorsichtiger werden lassen, weiter Hand an das Sozialsystem zu legen. Selbst wenn die Demonstrationen ohne greifbaren Erfolg für die Hartz-IV-Betroffenen bleiben, eine politische Wirkung haben sie.

Viele Demonstranten belassen es nicht bei »Hartz IV muss weg«. Sie fügen an: diese Bundesregierung muss weg. Auch Zustimmung?
Dafür sind Wahlen zuständig. Man demonstriert gegen politische Entscheidungen, um öffentlichen Druck für eine andere Politik zu erzeugen. Unterlassen die Regierenden eine Korrektur, werden sie die Quittung erhalten. Demonstrationen mögen zunächst nur die Meinung eines Teils der Bevölkerung widerspiegeln, die nächsten Wahlen werden ein Gesamtbild zeigen. Bei aller Wut auf die jetzige Bundesregierung sollte man nur nicht glauben, dass es den ärmeren Schichten unter einer Koalition von CDU/CSU und FDP besser gehen würde.

Im Bund übt die PDS scharfe Opposition gegen den Sozialabbau, in zwei Landesregierungen muss sie ihn mit umsetzen. Ein Dilemma?
Das Dilemma besteht nur darin, dass die PDS nicht den Einfluss hat, Bundesgesetze zu korrigieren. Das gilt aber auch für jeden PDS-Bürgermeister, sogar für jede Mitarbeiterin in einem Sozial- oder Arbeitsamt, die Mitglied der PDS ist. Sie alle müssen ständig Bundesgesetze anwenden, die ihnen nicht gefallen. Den Ratschlag, von konservativer Seite wie aus der kommunistischen Plattform, deswegen die Landesregierungen zu verlassen, halte ich für Unsinn. Die PDS kann nicht bis zur absoluten Mehrheit im Bund warten und muss deshalb in einer solchen Situation weiter das Beste für die Betroffenen herausholen, ihnen alle nötige und mögliche Hilfe anbieten. Maßstab für eine Landeskoalition ist die mit dem Koalitionspartner verabredete Landespolitik. Die PDS ist nicht genötigt, sich zur Bundespolitik solidarisch zu verhalten, das mögen Herr Wowereit oder Herr Ringstorff tun, oder auch nicht. Die PDS bleibt frei, ihre Kritik an Hartz IV öffentlich zu vertreten, auch dort, wo sie in Ländern oder Kommunen mitregiert.

Macht sie das ausreichend?
In Mecklenburg-Vorpommern und Berlin gelingt es der PDS jetzt besser, ihr Profil gegenüber der SPD deutlich zu machen - und zwar ohne Wichtigtuerei und Aufgabe von Loyalität. Niemand darf sich durch seinen Koalitionspartner disziplinieren lassen. Herr Wowereit und Herr Ringstorff müssen keine Beschlüsse des Bundesvorstandes der PDS gutheißen, warum sollten Harald Wolf oder Wolfgang Methling solche der SPD loben?

Gilt derzeit auch auf Landesebene: Wer regiert, der enttäuscht seine Wähler? Die PDS hat in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern bei der Europawahl im Juni deutlich verloren, anderswo gewonnen.
Beide Landesverbände wurden in eine Regierungsverantwortung gewählt in einer Zeit, in der in diesen Ländern nichts mehr zu verteilen war. Auch auf Grund einer falschen Bundespolitik, die man vom Land aus nicht korrigiert bekommt. Das ist in Berlin wegen der völligen Verschuldung dieser Stadt am extremsten. Ein Beispiel: Wir haben beschließen müssen, die Kindertagesstättengebühren zu erhöhen. Die PDS hat dann dafür gesorgt, dass die gering Verdienenden sogar etwas weniger als bislang bezahlen müssen, die normal Verdienenden und vor allem die Besserverdienenden aber deutlich mehr. Das ist in einer solchen Situation die Handschrift, die möglich ist. Natürlich will eine Partei wie die PDS gar keine Kindertagesstättengebühren. Aber man merkt doch diesen Kompromisscharakter. Wer solche Einschnitte aus fiskalischen Gründen nicht umgehen kann, muss damit rechnen, dass er auch enttäuscht und dass Zustimmung zurückgeht.

Sehen Sie in der SPD noch so etwas wie ein kleineres Übel?
In der SPD ohne PDS an der Seite nicht. Der Unterschied zwischen SPD und CDU ist zumindest in der Sozial- und Wirtschaftspolitik und ebenso in der Innenpolitik längst verwischt. Nur außenpolitisch konnte man, als es um die von den USA verlangte Gefolgschaft in den Irak-Krieg ging, noch eine relevante Differenz ausmachen. Die PDS braucht sich zur nächsten Bundestagswahl 2006 keinen Knoten in den Hals zu drehen, wie mit Konstellationsfragen umzugehen ist. Wenn sie wieder in den Bundestag einzieht, wird sie Opposition sein. Ob die SPD - so sie auch in der Oppistion landet - sich wieder sozialdemokratisch regeneriert und sich dann andere Optionen für die übernächste Wahl eröffnen, muss uns jetzt nicht beschäftigen.

Sind der Rechtstrend und die desolate Lage der SPD der Hintergrund, warum Sie für eine Entkrampfung des Verhältnisses zwischen PDS und CDU plädieren?
Mich ärgert, wenn drei in einer ähnlichen Situation sind und nur einer daraus Vorteile ziehen kann. Wir haben in den ostdeutschen Ländern in der Regel Drei-Parteien-Parlamente. Wenn keine Partei die absolute Mehrheit hat, führt die Tatsache, dass CDU und PDS sozusagen in Berührungsangst zueinander erstarrt sind oder sich selbst ein Berührungsverbot auferlegen, bei der SPD zu Selbstgerechtigkeit. Sie allein entscheidet nach einer solchen Wahl, wer regiert. Wenn man nun feststellt, dass SPD und CDU sich landespolitisch kaum unterscheiden, kann man dies nicht so belassen. Deshalb sollte man sich gegenseitig realistischer sehen und wenigstens für einen Notfall auch eine Zusammenarbeit nicht ausschließen.

Was soll das für ein Notfall sein?
Zum Beispiel, wenn die Gefahr einer rechtsextremistischen Machtergreifung oder Machtteilnahme bestünde. Zum Glück ist dies im Augenblick keine reale Gefahr. Ein Beispiel wäre aber auch, wenn die SPD in einem Bundesland in einen so großen Skandal verstrickt wäre, dass allein eine Zusammenarbeit von CDU und PDS Aufklärung und Abhilfe schaffen könnte. Damit so etwas in einem Notfall funktionieren könnte, muss man rechtzeitig einen Gesprächsfaden knüpfen. Ich gebe zu, das ist zur Zeit spekulativ.

Warum äußern Sie öffentlich solch spekulative Gedanken? Aus Gründen der Parteitaktik?
Nicht nur. Landespolitische Interessen können sich von bundespolitischen erheblich unterscheiden. Aber natürlich ist es auch ein machtpolitisches Argument, um aus einer einseitigen Abhängigkeit von der SPD herauszukommen. Dabei ist der Maßstab immer der gleiche: Mit wem kann man eigene politische Zielstellungen zu einem vertretbaren Anteil umsetzen und ist das im Interesse der Betroffenen, also derjenigen, denen man helfen will mit seiner Politik? Ich warne vor zwei Missverständnissen: Weder sollte man aus rein machtpolitischen Gründen über eine Zusammenarbeit mit der CDU nachdenken noch darf man sich einen solchen Gedanken aus rein ideologischen Gründen versagen.

Taktische Fragen besorgen gewöhnlich Vorstände und Fraktionen. Sind Ihre Spekulationen der Bote einer stärkeren Wiedereinmischung in die Politik der PDS?
Nein. Erstens habe ich bereits im Berliner Wahlkampf vor fast drei Jahren dazu aufgerufen, den Kalten Krieg zwischen CDU und PDS zu beenden. So neu ist das nicht. Zweitens kann man auch als Wähler oder einfaches Parteimitglied durchaus interessiert sein zu wissen, was taktisch von wem wann wie vollzogen wird. Ambitionen sind dabei nicht im Spiel.

Warum nicht? Reizt Sie ein politisches Amt wirklich nicht mehr?
Was ich jetzt mache, mache ich gerne. Es reicht mir, wie ich nach wie vor politisch agieren kann.

Das ist - mit Verlaub - schwer zu glauben. Sie haben jede Menge politische Wünsche unbeglichen, Sie wissen um politische Sympathien gegenüber Ihrer Person, Sie treten in Wahlkämpfen auf, Sie haben bei Veranstaltungen immer noch ein hoch interessiertes Publikum, die Medien klopfen nach wie vor bei Ihnen an - wieso reichen Ihnen da Auftritte, die doch fern von direkter politischer Einflussnahme bleiben?
Ich habe in meiner jetzigen Situation immer noch mehr Möglichkeiten, mich politisch zu Wort zu melden, als manch andere, die ein Amt haben. Ich kann mich nicht beschweren. Ich agiere ja politisch. Ob mit einem Mandat oder politischem Amt so viel mehr an Politik herauskäme als jetzt, wenn ich auf Veranstaltungen spreche, an Podiumsdiskussionen teilnehme, Kolumnen schreibe oder gelegentlich in den Medien auftrete, das steht überhaupt nicht fest. Die derzeitige Mischung gefällt mir gut. Als Anwalt vertrete ich Geschädigte, streite mich mit Banken und Kunden rum, verteidige Räuber...

In der Politik könnten Sie Räuber wieder attackieren.
Das mache ich jetzt auch. Ich bestreite ja nicht, dass zwei Seelen in meiner Brust leben. Ich bekomme Druck von vielen Seiten, 2006 wieder für den Bundestag anzutreten, und ich bin demgegenüber nicht gleichgültig. Wenn sich jemand so in die Öffentlichkeit begeben hat, wie ich es getan habe, dann gehört man sich nicht mehr ganz allein, das weiß ich. Aber man kann mir die Frage immer wieder stellen - ich lasse sie offen, bis sie zu entscheiden ist. Immerhin diese Freiheit nehme ich mir.

Wenn Sie sich noch nicht festlegen wollen: Spielt dabei eine Rolle, dass noch unklar ist, wie es sich mit der jüngst gegründeten Wahlalternative weiterentwickelt? Ihr Name und der von Oskar Lafontaine wird in einigen Meldungen dazu immer wieder genannt.
Nein. Übrigens habe ich noch nie ein Gespräch mit einem der Akteure der Wahlalternative geführt.

Für viele dieser Akteure ist die PDS wegen ihres Mitregierens in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern kein Ansprechpartner.
Das halte ich für einen Vorwand, außer bei denen, die zuvor eine Zusammenarbeit mit der PDS gesucht haben. Bei den anderen geht es eher um Vorurteile, nicht um eine gerechte Beurteilung unserer Politik.

Wie beurteilen Sie die Chancen einer Wahlalternative?
Ich glaube, dass eine neue Linkspartei in den neuen Bundesländern keine reale Chance hätte. In den alten Bundesländern ist das anders, ein bisschen auch in Berlin, weil es das einzige aus Ost und West gemischte Bundesland ist. Der PDS ist es in den letzten 14 Jahren nicht gelungen, das Defizit an linker Politik, das es im Westen gibt, aufzufüllen und Hemmungen ihr gegenüber deutlich zu überwinden. Ich hatte seit 1990 immer die Hoffnung, dass das eine Frage der Zeit ist. Diese Hoffnung habe ich aufgegeben. Natürlich ist es erfreulich, dass wir inzwischen auch im Westen in einigen Kommunalparlamenten vertreten sind und Mitglieder hinzugewonnen haben, die sich sehr engagieren. Das West-Defizit der PDS ist aber nicht zu leugnen.

Das ist die Diagnose, wie lautet die Therapie?
Mich interessiert an der Wahlinitiative, ob sie in der Lage ist, im Westen ein linkes Potenzial zu erschließen, das die PDS nicht erreicht und auch dann nicht erreichte, wenn sie in keiner Landesregierung wäre. Wenn das so sein sollte, dann wären die PDS und dieses Neue gut beraten, nicht zu versuchen, sich gegenseitig tot zu machen, sondern über Kooperationsmöglichkeiten nachzudenken. Sie müssten beide respektieren, dass sie - im jeweils anderen Teil Deutschlands - Menschen nicht erreichen, die die andere Partei erreichen kann.

Heißt das: Auflösung der PDS West in die Schemen einer möglichen Linkspartei und anschließend ein Zusammenführen von PDS-Ost und Linkspartei-West nach dem Muster von CDU und CSU?
Nein, ich weiß nicht einmal, ob aus dieser Westpartei etwas wird.

Aber Sie sagen, das Defizit der PDS im Westen ist aus eigener Kraft nicht aufzuheben.
Ja, zumindest nicht in absehbarer Zeit. Aber deswegen muss man sich nicht selber aufgeben. Man muss über das, was neu entsteht, nachdenken, darf weder die eigenen Türen verschließen noch panisch rausrennen. Es ist im Übrigen zu früh, praktische Lösungen dafür anzubieten.

Sie wollen nicht dafür werben, dass die PDS sich im Westen in die Struktur einer linken Wahlalternative einbindet, wenn diese umgekehrt bereit wäre, im Osten die PDS als Alternative zu unterstützen?
Nein. Das liegt weder in meiner Zuständigkeit noch sehe ich die jetzige noch weitgehend unüberschaubare Situation als geeignet dafür an. Ich werde einen Teufel tun, irgendjemand zu raten, etwas aufzugeben, bevor es etwas anderes und besseres gibt. Meine Herangehensweise ist eine andere. Wenn sich herausstellt, dass man die Ansätze im Westen ernst nehmen muss - wer weiß denn, ob nicht zunächst alle Diskussionen der letzten 30 Jahre wiederholt werden - dann werde ich versuchen, meine politische Autorität dafür einzusetzen, dass von Anfang an zwischen den Verantwortlichen beider Parteien ein Kooperations- statt eines Konfrontationsgedankens entsteht. Wichtig ist, mit welcher Zielstellung und Motivation man eine Sache angeht. Sich anschließend zu korrigieren, ist immer schwer. Wenn man weiß, dass man ein Defizit hat, das man nicht ausfüllen kann, und ein anderer ist dazu möglicherweise in der Lage, dann sollte man das in irgendeiner Form respektieren und mit dem anderen besprechen, wie man mit dieser Situation umgeht.

Oskar Lafontaine lässt gelegentlich Sympathien mit einer neuen Linkspartei erkennen. Wenn er sagen würde: Ich bin dabei, Gregor, machst Du auch mit? - was wäre Ihre Antwort?
Dann sage ich ihm: Ich bin Mitglied der PDS und dabei wird es bleiben. Im Übrigen habe ich Lafontaine so verstanden, dass er der SPD bis nach der Landtagswahl in NRW die Chance gibt, ihre politische Ausrichtung zu verändern. Geschieht das auch dann nicht, will er wohl Konsequenzen ziehen, wen er weiter unterstützen kann. Derzeit verstehe ich seine Äußerungen eher als einen Alarmruf an seine Partei.

Zur Bundestagswahl könnte man nur als gemeinsame Partei oder konkurrierend antreten, Parteienbündnisse sind gesetzlich und im Grundgesetz nicht vorgesehen.
Das ist richtig und kann eine der vor uns liegenden Herausforderungen sein, denn die PDS darf auf ihre Stimmen im Westen nicht verzichten, schon um die 5-Prozent-Hürde zu überwinden. Ich plädiere umso mehr dafür, ohne Kriegsbemalung in diese Debatte zu gehen.

Was ist für Sie die spannendste Frage mit Blick auf 2006?
Natürlich vor allem, ob die PDS es schafft, wieder in den Bundestag einzuziehen. Und zwar mit einem solchen Dampf, dass die Etablierten ernsthaft darüber nachdenken müssen, was sie alles falsch gemacht haben, wenn sie sich die PDS nun wieder einhandeln.

Fragen: Jürgen Reents
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