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Das kaukasische Pulverfass

Kein Ende des Schreckens in Russland

  • Irina Wolkowa, Moskau
  • Lesedauer: 5 Min.
Einzelheiten sind nicht zu erkennen: Die Schule Nr. 1 in Beslan, einer Stadt in der nordkaukasischen Republik Nordossetien, ist seit der Geiselnahme am Mittwochmorgen von Polizisten, Geheimdienstlern und Einheiten des Ministeriums für Katastrophenschutz weiträumig abgesperrt.
Gleich nach dem Fahnenappell zur Eröffnung des neuen Schuljahres hatten bis zu 25 maskierte Bewaffnete - darunter auch Frauen - Schüler, Eltern und Lehrer in ihre Gewalt gebracht und in der Turnhalle des dreistöckigen Gebäudes zusammengetrieben. Zunächst war von drei Opfern die Rede, die beim ersten Angriff getötet worden seien, dann von zweien. In periodischen Abständen waren Schüsse aus der Schule zu hören, berichtete ein Reporter der halbamtlichen Nachrichtenagentur RIA-Nowosti.
Kontaktaufnahme mit Terrorexperten der Geheimdienste lehnten die Geiselnehmer zunächst kategorisch ab. Als erster Unterhändler sei der oberste islamische Geistliche Nordossetiens, Mufti Ruslan Walgatow, in die Schule gegangen, meldete Itar-Tass. Walgatow wollte nach eigenen Worten »in einen Dialog mit den Terroristen treten«. Gegen Mittag forderten die Besetzer indes Verhandlungen mit Nordossetiens Präsidenten Alexander Dsasochow und dessen inguschischen Kollegen Murat Sjasikow.
Reporter und Kamerateams wurden auf Distanz gehalten, das russische Fernsehen - mit starkem Aufgebot am Ort des Geschehens - musste sich daher mit der Übertragung verhuschter Totalaufnahmen begnügen. Doch die Zuschauer sind ohnehin mehr als übersättigt mit Details von Anschlägen und Geiselnahmen, die allzu häufig tragisch enden. Die letzten derartigen Bilder waren am Mittwoch noch keine 24 Stunden alt: Am Dienstagabend war nahe der Metro-Station »Rishskaja«, fünf Kilometer vom Kreml entfernt, eine Bombe explodiert, der nach Angaben vom Mittwoch zehn Menschen zum Opfer fielen. Der Anschlag geht nach Erkenntnissen der Sicherheitsdienste auf das Konto einer Selbstmordattentäterin kaukasischer Herkunft. Neben der Metro-Station liegt eine Markthalle, in der auch etliche Kaukasierinnen Obst und Gemüse verkaufen. Das Auftauchen von »Personen kaukasischen Aussehens« ist in dieser Gegend also alltäglich. Bei der Attentäterin soll es sich um eine Bekannte jeder beiden Frauen gehandelt haben, die verdächtigt werden, in der letzten Woche zwei Verkehrsflugzeuge mit insgesamt 89 Insassen zum Absturz gebracht zu haben. Die Frauen seien gemeinsam nach Moskau gereist, hieß es in Medienberichten.
Regierungskritische Experten hatten eine derartige Eskalation des Terrors schon lange kommen sehen. Jeder legalen Ausdrucksmöglichkeit beraubt, drohte der radikale Flügel der tschetschenischen Separatisten schon im Juli nicht nur mit einer Ausweitung der Geographie seiner Kampfhandlungen. Bekennerschreiben enthielten keine Forderungen nach Verhandlungen mehr. Überfälle auf russische Militärs und moskautreue Polizeiposten im Nordkaukasus sowie diverse kleine Anschläge in anderen Regionen Russlands - vor allem auf Märkten und an Bushaltestellen - waren allenfalls noch als Feldzug der Rache für die fast 200000 Toten der Tschetschenien-Kriege und die Leiden des tschetschenischen Volkes in den vergangenen zehn Jahren zu erklären.
Aslan Maschadow, der in den Untergrund gedrängte ehemalige Präsident Tschetscheniens, ließ die Verantwortung für die jüngsten Anschläge durch seinen Europa-Sprecher Achmed Sakajew erneut von sich weisen. Die übernahm stattdessen eine in Russland bislang unbekannte Terrorgruppe »Islambuli-Brigade der Al Qaida«. Terrorismusexperten halten die Täterschaft der »Islambuli« indes für wenig wahrscheinlich. Sie vermuten, dass die Gruppe, die mit weiteren Attentaten in Russland droht, durch ihre Bekennerschreiben lediglich um Aufmerksamkeit werben will. Doch stützen diese Schreiben die Argumentation Präsident Wladimir Putins und seines Verteidigungsministers Sergej Iwanow, der von einer »Kriegserklärung des internationalen Terrorismus an Russland« sprach. Auf diese Weise lässt sich der Krieg in Tschetschenien wie bisher als russischer Beitrag im weltweiten Kampf gegen Extremisten verkaufen.
Ella Poljakowa, Vorsitzende der Petersburger Soldatenmütter und Trägerin des diesjährigen Aachener Friedenspreises, forderte Russland am Mittwoch indes zur sofortigen Beendigung der Kämpfe in Tschetschenien auf, sonst drohe eine Ausweitung des Konflikts. »Der Kaukasus ist ein Pulverfass«, sagte Poljakowa vor Journalisten in Aachen und verwies dabei auch auf die Geiselnahme im nordossetischen Beslan. Andere russische Kritiker wie die Journalistin Julia Latynina hatten schon frühzeitig zu bedenken gegeben, dass Russland den Krieg gegen den Terror nur dann gewinnen kann, wenn Moskau ihn zuvor offiziell erklärt und von der Fiktion einer bloßen Anti-Terror-Operation Abschied nimmt.
Bundeskanzler Gerhard Schröder, der erst am Dienstag mit Präsident Putin in Sotschi am Schwarzen Meer zusammengekommen war, nahm nach seiner Rückkehr »mit Entsetzen« die Nachricht von dem »schrecklichen terroristischen Anschlag in der Moskauer Innenstadt« zur Kenntnis. In einem Kondolenzschreiben an Putin sprach er diesem sein Mitgefühl aus. »Besonders denken wir in diesen Stunden an die Schüler, Eltern und Lehrer in Beslan«, hieß es darin. »ich hoffe inständig, dass es gelingt, diese furchtbare Geiselnahme schnell und ohne Opfer zu beenden.


Nordossetien
In der Republik Nordossetien im russischen Nordkaukasus leben 700000 Menschen auf einer Fläche von 8000 Quadratkilometern - halb so groß wie Thüringen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung sind Osseten, Nachfahren eines vor Jahrhunderten aus Iran eingewanderten Volkes. 200000 Russen sind die größte Minderheit. Die wichtigsten Religionen sind das orthodoxe Christentum und der Islam.
Hauptstadt des gebirgigen Landes ist Wladikawkas (»Beherrsche den Kaukasus«) mit mehr als 300000 Einwohnern. Im März 1999 wurden bei einem Bombenanschlag auf dem Markt von Wladikawkas 52 Menschen getötet. 50 starben im August 2003, als ein Attentäter einen Lastwagen mit Sprengstoff in ein Militärhospital der Stadt Mosdok steuerte. Von Mosdok aus wird der russische Truppeneinsatz in Tschetschenien befehligt.
Gespannt ist das Verhältnis der Osseten zu den benachbarten Inguschen. Wie die Tschetschenen waren die Inguschen während des Zweiten Weltkrieges auf Stalins Befehl gewaltsam nach Sibirien deportiert worden, ein großer Teil ihres Siedlungsgebietes wurde damals Nordossetien zugeschlagen. 1992 starben bei Kämpfen zwischen Nordosseten und Inguschen 700 Menschen.
Im Süden grenzt Nordossetien an Südossetien, das sich von Georgien losgesagt hat und seit Jahren nach Vereinigung mit dem Norden im Rahmen der Russischen Föderation strebt.
Wirtschaftlich ist Nordossetien mit Maschinen-, Holz- und Lebensmittelindustrie im Vergleich zu den Nachbarrepubliken gut entwickelt. Die Landbevölkerung lebt von Schaf- und Ziegenzucht sowie dem Anbau von Getreide, Obst und Baumwolle.
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