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Nordirischer Friedensprozeß braucht Realismus

Sinn-Fein-Vize MARTIN McGUINNESS zu den neuen Gesprächen mit der britischen Regierung in Reifast

  • Lesedauer: 4 Min.

Sinn-Fein-Vizepräsident MARTIN McGUINNESS, geboren 1950 im nordirischen Derry, ist bereits seit längerer Zeit Verhandlungsführer seiner stets mit der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) in Verbindung gebrachten Partei in den Friedensgesprächen. Gestern trafen erstmals seit den jüngsten IRA-Attentaten wieder Vertreter von Sinn Fein und der britischen Regierung zusammen. Kurz zuvor sprach YVONNE JENNERJAHN in Derry mit McGuinness.

Was sagen Sie zu den Spekulationen über personelle Veränderungen in der IRA-FUhrung, die zur Beendigung des Waffenstillstandes geführt haben sollen?

Darüber habe ich überhaupt keine Informationen. Sinn Fein ist eine politische Partei, unsere Verantwortung besteht darin, unsere Wähler zu repräsentieren, über militärische Angelegenheiten bin ich insofern nicht informiert.

Anfang Februar hatte der USA-Vermittler George Mitchell vor neuen Anschlägen gewarnt. Sie haben darauf erwidert, die republikanische Bewegung sei geeint und die IRA sei eine disziplinierte und geschlossene Organisation ...

George Mitchell hat gesagt, er glaube, daß die Gefahr einer Spaltung der republikanischen Bewegung bestehe, und ich habe das kommentiert. Ich habe gesagt, ich glaube, daß die IRA in den vergangenen 18 Monaten gezeigt hat, daß sie eine disziplinierte, geschlossene Organisation ist. Das ist ein Unterschied. Jetzt gab es die Anschläge der IRA in London, aber es gibt nichtsdestoweniger keinerlei Anzeichen irgendeiner Spaltung innerhalb der IRA.

Sie standen in den letzten Tagen nicht für Interviews zur Verfügung ...

Weil ich an Treffen in verschiedenen Teilen des Landes teilgenommen habe. Ich war letzte Woche lange in Dublin,

u. a. haben wir mit Bertie Ahern, dem Parteichef der Fianna Fall geredet. Wir haben intensiv versucht, den Friedensprozeß wieder aufzubauen, der von der Weigerung John Majors und der Unionisten ..zu verhandeln und von der IRA-Bombe in den Docklands zerstört worden ist. Wir glauben fest daran, daß der Friedensprozeß wieder aufgebaut werden kann, aber dazu ist ein neuer Realismus notwendig, insbesondere seitens der britischen Regierung.

Gibt es nach diesen Gesprächen Anzeichen dafür, daß die Bombenanschläge aufhören werden?

Ich glaube, sehr viele Leute haben inzwischen erkannt, daß neben anderen Dingen die Selbstzufriedenheit vieler Politiker in den letzten 18 Monaten zum Ende des Waffenstillstandes geführt hat. Ich glaube, daß alle politischen Führungspersonen, die wir in den vergangenen Tagen getroffen haben, es für dringend notwendig halten, den Friedensprozeß wieder aufzubauen. Aber sie sehen auch, daß die Schlüsselrolle dabei dem britischen Premierminister und der Regierung in London zukommt. Die britische Regierung muß die grundsätzliche Entscheidung treffen, sofort ernsthafte Verhandlungen mit uns zu beginnen.

Oppositionsführer Tony Blair unterstützt John Major in seiner Nordirlandpolitik. Erwarten Sie unter einer La-

bour-Regierung in Großbritannien bessere Bedingungen für Friedensgespräche?

Die Briten brauchen vermutlich eine Labour-Regierung. Aber ich glaube, viele Leute in Irland stellen sich die Frage, ob wir sie auch brauchen. In den vergangenen 25 Jahren waren Labour-Regierungen für die denkbar schlechteste Politik hier in Nordirland verantwortlich. Aber wir geben natürlich die Hoffnung nicht auf. Die britische Labour-Partei geht davon aus, daß die Wiedervereinigung Irlands die beste langfristige Lösung ist. Wer auch immer gewählt wird und die Regierung in London bildet - Sinn Fein ist bereit, konstruktiv mit ihnen zu arbeiten. Aber viele Leute in Irland und auch in

Großbritannien sind sehr enttäuscht, daß Tony Blair Major nicht in seiner Nordirlandpolitik herausfordert und nicht seine Weigerung kritisiert, ernsthafte Gespräche zu beginnen.

Warum ist in den letzten Monaten so wenig in der Öffentlichkeit über die konkreten Fragen geredet worden, die verhandelt werden sollen: Menschenrechte, Bürgerrechte, Verfassung?

Das ist sehr einfach zu erklären. Die britische Regierung und die Unionisten haben die Diskussion erfolgreich auf die Frage der Kapitulation der IRA, auf die Abgabe der Waffen konzentriert. Es stimmt, während dieser Zeit haben die meisten Parteiführungen vollständig versagt, abgesehen von

Leuten wie John Hume und Gerry Adams. Sie haben nicht begriffen, daß die Ursachen des Konflikts berücksichtigt werden müssen, grundlegende politische Fragen, Verfassungsfragen. Und Themen wie die Polizei, die Notstandsgesetzgebung, das Elend der Gefangenen, die Repression, die in Nordirland gegen die nationalistische Gemeinde eingesetzt wurde.

Ich glaube, was wir im Moment erleben, ist der Versuch der britischen Regierung und der politischen Führung der Unionisten, sich einer Debatte über all diese Themen zu widersetzen. Aber das ist ein Kampf, den sie verlieren werden, weil sich immer mehr Leute fragen, wer eigentlich Angst vor einem Frieden hat.

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