nd-aktuell.de / 27.02.1996 / Politik / Seite 12

„Generallinie“ und der Generalsekretär

Der Vorwurf, eine Änderung des Grenzregimes unterlassen zu haben, machte juristisch Sinn, wenn ein solcher Versuch eine minimale Aussicht auf Erfolg versprochen hätte. Jeder Vorstoß in diese Richtung wäre, unter den seinerzeitigen Bedingungen sofort als Versuch geahndet worden, die sogenannte Generallinie und die Person des Generalsekretärs in Frage zu stellen. Sie hätte im Politbüro oder in einem anderen Gremium nicht die geringste Chance gehabt. Der Betreffende hätte sich damit zu „Terminologie und Denken des Gegners“ bekannt. Wer solche Auffassungen vorzutragen oder durchzusetzen versucht hätte, wäre als „Geisteskranker“ oder „Abweichler“, als „trojanisches Pferd des Klassenfeindes“ sofort kaltgestellt worden. Formell gab es ja keinen Schießbefehl oder eine entsprechende Entscheidung des Politbüros.

Zu einem ? Schritt in dieser Richtung entschloß ich mich erst ini Jahre 1989,'vor allem 'unter dem Eindruck der'neuerlichen großen Flucht der Menschen aus der DDR. Auch zwei andere Politbüromitglieder, Krenz und Lorenz, waren

- zunächst unabhängig von mir

- gleichfalls zu dem Schluß gelangt, daß die DDR ohne Reisefreiheit keine Chance haben würde. Damit verband sich vom ersten Augenblick an die Überlegung, daß Honecker als Generalsekretär entmachtet werden muß, wenn der Weg zu einer anderen, humaneren DDR freigemacht werden soll. Als erstes sollten die Bürger endlich frei reisen können.

Auf der in der Anklageschrift erwähnten Politbürositzung im September 1989 hatte ich u. a. auf die Notwendigkeit verwiesen, die Reisemodalitäten zu verändern. Eine Diskussion darüber kam nicht zustande, weil der Sitzungsleiter, Mittag, die krankheitsbedingte Abwesenheit Honeckers vorschützte, um die Debatte abzuwürgen.

Die drei Politbüromitglieder haben dann die erste sich objektiv bietende Chance zur Absetzung Honeckers auf konspirative Weise genutzt, um mit der politischen Ausschaltung seiner Person die dringend notwendigen oder überfälligen Änderungen des politischen Kurses der DDR einzuleiten. Die Massenflucht, die immer offeneren Proteste der Menschen wie die Montagsdemonstrationen in Leipzig und die zunehmend durch eigene innenpolitische Schwierigkeiten beanspruchte Moskauer Führung umreißen die Lage, in der mit einiger Aussicht auf Erfolg an die Absetzung Honeckers gegangen werden konnte, um erste politische Änderungen einzuleiten.