nd-aktuell.de / 27.02.1996 / Politik / Seite 12

Verführungskraft der Utopie bloßlegen

In meinem Zweifel am Nutzen eines solchen Prozesses für die vielberufene und notwendige Aufarbeitung jüngster Geschichte sehe ich mich bestärkt. Geschichte und Politik mit ihrem vielseitigen Kausalitätsgeflecht entziehen sich dem mehr zur Selektion als zu komplexer Sicht verhelfenden Instrumentarium der Justiz.

Aus sachlichen, aber auch aus einer prinzipiellen Erwägung heraus kann ich die Anklage nicht annehmen. Wenn geschichtliche Aufhellung sinnvoll geleistet werden soll, kann sie sich nicht mit dem Auszählen von schwarzen und weißen Steinen,'mit der Auflistung von Gerechten und Ungerechten begnügen. Sie kann die Sünden der Gesellschaft nicht ausklammern, den Irrsinn des Kalten Krieges, nicht die Plagen, die heute wie morgen das Bedürfnis nach sozialer Veränderung provozieren und der marxistischen Utopie auch künftig, ungeachtet ihres - unseres - Fiaskos Jünger zutreiben werden. Die Verführungskraft der Utopie bloßzulegen und zu paralysieren wäre wichtig. Der Prozeß wird, fürchte ich, kaum dazu beitragen, weil er die Angeklagten lediglich als Fertigprodukte und Teilexistenzen erfaßt, paßgerecht für das Konstrukt der Staatsanwaltschaft. Die pauschale juristische Belastung des Politbüro-Restes werden die Denkverweigerer als Freispruch für die falsche Ideologie werten, nach der Devise: Miese Typen, aber die gute Sache bleibt unbeschädigt. Das aber schiene mir das Gegenteil von Aufarbeitung.

Daß ich mich moralisch schuldig fühle und mich zugleich gegen die juristische Konstruktion verwahre, mich während meiner Mitgliedschaft im Politbüro, letztlich nur aufgrund dieser Mitgliedschaft, eines mehrfachen Totschlags strafbar gemacht zu haben, ist kein Widerspruch