nd-aktuell.de / 27.02.1996 / Politik / Seite 12

Mauer war ultima ratio der Sowjets

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Moskau als das unbezweifelbafö ? Machtzentrum des Ostblocks hat die undurchdringliche Beschaffenheit seiner Westflanke, des vielleicht wichtigsten Teils des Eisernen Vorhangs, befohlen und organisiert. Der Oberbefehl über diesen militärischen Bereich oblag bis zum Ende des Warschauer Paktes einem Sowjetmarschall. Die Mauer durch Deutschland war ultima ratio der Sowjets, um Ende der 50er Jahre und Anfang der 60er Jahre die Fluchtbewegung aus ihrem deutschen Gehege, der DDR, zu stoppen und damit das westliche Glacis des kommunistischen Lagers vor weiterer Destabilisierung zu bewahren. Der Bau der Mauer ist ohne Raison, Drängen und Placet Moskaus nicht denkbar, so bereitwillig auch deutsche Kommunisten die Hand dazu gereicht haben mögen.

Gorbatschow war von Grenzöffnung überrascht - und nicht angenehm!

So sehr der Bau der Mauer initial und nicht nur „auch“ das Werk des Sowjetregimes von 1961 war, so wenig hat die Moskauer Führung 28 Jahre später mit dem Sturz der Mauer zu schaffen. Der Antrieb dazu ging von den Demonstrationen der Menschen auf den Straßen der DDR aus. Sie veranlaßten drei Mitglieder im Politbüro der SED endlich zu handeln. Die sowjetische Führung unter Gorbatschow zeigte sich von der Öffnung der Grenze am 9 November überrascht, und das nicht angenehm! Die Erinnerungen von Falin und anderen Sowjetdiplomaten belegen das. Und Gorbatschow, wie aus einer Veröffentlichung im Spiegel zu entnehmen ist, kann bis heute sein Mißfallen über den ersten eigenständigen Schritt der Honecker-Nachfolger nur schlecht verhehlen.

Ohne eigene Verantwortung zu leugnen, darf ich sagen, daß eine enorme sowjetische Mitverantwortung und Urheberschaft an allem vorliegt, was an Makeln des DDR-Systems zu sichten ist.

Wer wollte das ernsthaft bezweifeln angesichts der Demonstration vernichtungswütiger Brutalität, mit der selbst

vom postsowjetischen Rußland, präziser, von gänzlich ungeläuterten einstigen Sowjetmilitärs und KGB-Offizieren, der Unabhängigkeitswille eines kleines Volkes zerstampft wird. Es ist nachgerade grotesk, wenn von dieser Seite heute so getan wird, als hätten sie sich die Westgrenze des Lagers, also die imperiale Grenze der UdSSR, nicht als eisernen, sondern als Plüschvorhang gewünscht.

Nicht ohne Betroffenheit erlebe ich, wie ein erheblicher Teil des früheren Funktionärkaders in Moskau von seinem politischen und moralischen Anteil an Praxis und Prägung der DDR nichts mehr wissen will und von solcher Abmahnung auch seitens der Bundesrepublik verschont bleibt. Wie könnte das bei der Aufarbeitung jüngster deutscher Geschichte, in welchem Rahmen immer sie stattfinden mag, außer Betracht bleiben?