Noch einmal zogen gestern Kolonnen - wie im Januar - zur Gedenkstätte der Sozialisten, um Rosa und Karl zu ehren. Diesmal jedoch auf einem Polizeivideo und vor den gestrengen Augen des Innenausschusses. Es war Flimmerstunde angesagt. Man suchte nach Schuld oder Unschuld der Polizei an den handfesten Tumulten von damals. '
Doch ein Polizeivideo ist kein Dokumentarfilm, sondern einer, der sogenannte Störer aufspüren soll. Und ein Störer wiederum ist einer, der sich vermummt. Nicht mit Helm und runtergezogener Klappe wie die Polizei, sondern mit Schal, Perücke, der unter jungen Leuten modischen Kapuze und allerlei anderem Tarnzeug. Auch Handschuhe sind verdächtig, so die Sonne schiene, und Sonnenbrillen, wenn es schneite. Allerdings fand sich wenig von alldem auf dem
Band - ein Herr mit Fähnchen, eine Dame mit rotem Schal auf der Nase, einer, der hinter einem Busch wartete, bis die Kamera kam, um dann einen Stein gegen die Videowanne zu schleudern und wieder hinterm Gesträuch zu verschwinden.
Die Zeugen, als sachkundige Personen aufgerufen, vermittelten ein plastischeres Bild. Die Gewalt sei von der Polizei ausgegangen, indem sie immer wieder gewaltsam in den Zug eindrang, legte Frau Lake dar. Und Herrn Hauser schlug man bewußtlos und zwei Zähne aus, obgleich er gar nicht mitmarschierte. Der Polizist muß einen eisernen Gegenstand im Handschuh gehabt haben, vermutete dem Zustand der Wunde nach auch eine Ärztin.
Polizeigruppenführer Ewald indes war gekommen, wie er sagte, um Gutes zu tun, näm-
lich die Demo zu schützen. Bei Ankunft des „Störerblockes“ an der Gedenkstätte habe man überraschend den Befehl zum Abmarsch bekommen und wollte quer über den Vorplatz in Polizeireihe, sprich Gänsemarsch, abtreten, was man in der Menge wohl mißverstand. Ewald schilderte, wie seine Leute beschimpft, dann mit Suppentellern, Ziegeln und Büchsen bombardiert worden seien. Er habe an vielen Einsätzen teilgenommen, auch in der Mainzer Straße, aber so etwas habe er kaum erlebt, sagte Ewald - er wie andere hätten ihr Leben bedroht gesehen und den Einsatz von Schußwaffen erwogen. Nur der Besonnenheit der Polizei sei es zu danken, daß es nicht noch schlimmer ausgegangen sei.
Hans-Georg Lorenz (SPD) und Wolfgang Wieland (Grüne) nannten es in ihrer Filmkritik
wenig zwingend, Fähnchen und Vermummte aus irgendeinem Aufzug zu holen. Dieter Hapel (CDU) meinte, den Demo-Leuten fehle es irgendwie an Unrechtsbewußtsein. Marion Seelig (PDS) empörte sich darüber, daß Demonstranten im Visier von Polizeischußwaffen waren, wenn auch nur in Gedanken. Alle Versammelten bekundeten, daß die Zeugen beider Seiten wohl wahr gesprochen hätten.
Selbige, so schränkte Polizeipräsident Hagen Saberschinsky ein, hätten allerdings viel zu wenig Übersicht, um urteilen zu können. Die Gewalt hätte schlagartig begonnen und ebenso schnell wieder aufgehört, was eine Steuerung durch die organisierte politische Kriminalität vermuten ließe, faßte der Polizeipräsident zusammen.
RAINER FUNKE
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/606515.die-polizei-erwog-bereits-zu-schiessen.html