nd-aktuell.de / 24.04.1996 / Politik / Seite 3

Podiumsdiskussion: Kaltstart im Hitzestau

Bis zum Oktober wollen Bundestagsgruppe wie Basisgruppen der PDS überall im Lande das Gespräch suchen, um möglichst viele Menschen zu mobilisieren gegen den sozialen Kahlschlag der Bundesregierung und für machbare Alternativen. Daß es Gründe für derlei konzertierte Aktion gibt, steht außer Frage. Gerade ist man in Bonn dabei, den Sozialstaat Stück für Stück ärmer zu machen - und damit Millionen seiner Bürger Das zu beklagen, wäre für ernsthafte Oppositionspolitik allerdings ein bißchen dünn.

Mehr und mehr sind Konzepte gefordert - zumal die PDS sich eines immergrünen Vorwurfes des Populismus zu erwehren hat. Konzeptionelle Ansätze der Partei gibt es - mit der Forderung nach einem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor mit Vorschlägen für eine soziale Grundsicherung, mit Hinweisen auf mögliche Sparpotentiale, mit dem Nachweis möglicher Einnahmequellen

Daß es Gesprächsbereitschaft über Auswege aus der Krise nicht nur unter Betroffenen gibt, bezweifelt keiner Warum dennoch am Montag-

abend manch einer vorzeitig das Auditorium verließ, in dem PDS-Politiker mit Vertretern von Wohlfahrtsverbänden, Kirche und Gewerkschaften um soziale Grundsicherung stritten, brachte eine Frau aus dem Publikum auf den Punkt. „Diese Debatte ist mir viel zu akademisch - hier wird viel zu monetär diskutiert“

Das muß wohl Ullrich Schneider, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, geahnt haben. Er zeigte sich ziemlich verwundert, daß an einem so schönen Tag so viele Menschen zu einem solch trokkenen Thema erschienen waren. Seine Skepsis sollte nicht enttäuscht werden. Allerdings leistete auch er seinen erklecklichen Beitrag zum Insidergespräch, das die Reihen mehr und mehr lichtete. Diskussionen um Soziales sollten eben nicht nur entsprechend dem Anliegen die Gemeinschaft betreffen, sondern sie auch erreichen - und, wie ein Zuhörer formulierte, Betroffene einbeziehen.

Die sozialpolitische Sprecherin der PDS-Bundestagsgruppe, Heidi Knake-Werner, wollte den Vorwurf monetären Herangehens nicht auf sich sitzen lassen. Verständlich. Viel zu lange hat man an dem Vorschlag zur sozialen Grundsicherung gebastelt, der die monatliche Zahlung von 1425 DM für einen Erwachsenen ohne Einkommen - plus Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung und Wohngeld - vorsieht. Als Wege dahin will die PDS die Versicherungspflicht auf alle Erwerbstätigen - auf Beamte, Selbständige, Freiberufler, Abgeordnete und Minister ausdehnen, die Sozialversicherungsbeiträge nicht nur nach Lohnsumme, sondern nach Wertschöpfung der Betriebe berechnen. Steuermiß-

brauch, -hinterziehung und -flucht wirksam bekämpfen sowie eine Umsatzsteuer auf Finanzgeschäfte erheben.

Mit der sozialen Grundsicherung wäre nach Einschätzung der PDS zumindest der erste Schritt getan, die Würde des Menschen dem Grundgesetz entsprechend unantastbar zu machen. Doch Ullrich Schneider, der das PDS-Anliegen im Interesse der fünf Millionen Sozialhilfeempfänger und einer Million Langzeitarbeitslosen für durchaus richtig hält, kontert: Wenn er die nötige Anschubfinanzierung von 175 Milliarden sieht, möchte er das PDS-Papier gleich wieder weglegen. ,

So sehr er mit der PDS im Ansatz übereinstimme, so wenig kann der Mann vom Pari-

tätischen Wohlfahrtsverband mit der von den Sozialisten beabsichtigten Grundsicherung „mittels Gießkanne“ mitgehen - also auch für Frauen, deren Männer sehr gut verdienen oder für Kinder und Jugendliche, unabhängig vom Einkommen der Eltern. Das sind für ihn verpulverte Summen, die sich heute keiner mehr leisten könne. Den Hinweis, daß damit Abhängigkeit von Unterhalt beseitigt würde, ließ Schneider nicht gelten. Die angedachte Summe der Grundsicherung liege etwa 300 Mark über dem Sozialhilfeniveau damit die Emanzipation von Frauen durchsetzen zu wollen, sei illusionär

Für Pastorin Frederike Woldt von der Evangelischen Kirche in Sachsen ist es wie-

derum gerade der Ansatz im Interesse von Frauen, der sie am PDS-Antrag reizt. In ihrer kleinen Gemeinde Kreischa gibt es nicht wenige Frauen über 50, die sich mit prekären Beschäftigungsverhältnissen über Wasser halten. Auch deshalb sei sie, so die Pastorin, auf der Suche nach Modellen, die jeder Frau über 50 eine Chance geben. Die Aufforderung der Pastorin, angesichts der Massenarbeitslosigkeit über Werte und besonders den Millionen Menschen verlorengegangenen Wert Arbeit zu diskutieren, quittierten viele im Saal mit Beifall und Kopfnicken - indes die Diskussion biß sich an völlig anderer Stelle fest.

Harry Fuchs, Vorsitzender des Gewerkschaftsausschusses der ÖTV, erntete zwar viel Beifall, als er darauf verwies, daß die Massenarbeitslosigkeit wie die deutsche Einheit regierungsamtlich nicht als gesamtgesellschaftliches Problem gelöst werden sollen -, sondern per Subvention der \rbeitnehmer über die Sozial-

versicherungssysteme. Als er aber rundweg eine Verbindung zwischen Mindestsicherung und Mindestlohn ablehnte, hatte er wenig Freunde im Saal. Für viele Gewerkschafter, so Fuchs, wäre eine gesetzliche Mindestlohnregelung ein massiver Eingriff in die Tarifautonomie - und überdies dann abhängig von zufälligen politischen Mehrheiten. Das brachte ihm den Vorwurf von den Rängen ein, daß sich die Gewerkschaften überwiegend den Interessen der Arbeitenden verpflichtet fühlen - was in der Zustimmung ihrer Vertreter in der Kanzlerrunde zur dreiprozentigen Absenkung der Arbeitslosenhilfe oder zu untertariflichen Einstiegslöhnen gipfele.

Fest steht, das Thema soziale Grundsicherung ist so schwierig, wie alt. Und gerade weil es nicht populistisch angegangen werden soll, vielleicht ohne Fach-Chinesisch nicht zu diskutieren. Und dennoch ist der erschöpfte Ausruf einer Zuhörerin „wir machen es viel zu kompliziert“ nachzuvollziehen. Aber die PDS-Kampagne hat ja auch gerade erst begonnen.

GABRIELE OERTEL