nd-aktuell.de / 25.04.1996 / Kultur / Seite 12

DunkeL sehr dunkel ist der Weltraum Genossen

HANS-DIETER SCHUTT

Was in diesem Stück stattfindet, ist der große, vielleicht einzig ungebrochen gebliebene Traum des Menschheit: eine Zeitreise. Deutsche, russische, kontinentale Historie blitzen minutenlang auf, in schwerblütigen wie schwermütigen Collagen aus kantig-assoziativer Poesie und kommentierendem Dokument. Die Gestorbenen der Schlachtfelder und Mythen erheben sich, Thälmann fragt Ulbricht während eines Streifengangs an der Berliner Mauer „Was haben wir falsch gemacht?“ Brechts Tod schließlich wird zum Zentrum einer Auseinandersetzung um Revolution und Reform, historisch legitimierte Macht und deren stalinistische Absicherung, die letztlich den Verlust der antifaschistischen Legitimation bedeutete.

„Germania 3 - Gespenster am Toten Mann“ - so heißt das letzte Theaterstück Heiner Müllers, im Mai wird unter der Regie Leander Haußmanns Uraufführung in Bochum sein; am Berliner Ensemble probt

Intendant Martin Wuttke das schwierige Werk, für dessen Bühnen-Realisation ihm der Autor selbst den hinterhältigen Ratschlag mitgegeben hat „Mach es leicht.“

Das aufwühlende künstlerische Vermächtnis Müllers ist genau das, womit Stephan Hermlin auf der Trauerfeier für den im Dezember vergangenen Jahres gestorbenen BE-Direktor das Gesamtwerk des Dramatikers charakterisiert hat: ein Findling in der deutschen Literatur - schwer, alles Gewesene in sich tragend, versteinert, nicht bezwingbar. Und der Fund ist zugleich ein Befund: Die Antworten auf Geschichte sind verlorengegangen, „DUNKEL, SEHR DUNKEL IST DER WELTRAUM GENOS-SEN“, so der letzte Satz des Stückes.

Müllers Tragödie ist ein Produkt selbstquälerischen Bekenntnisses zu den Jahrhundert-Widersprüchen, die einen Menschen zerreißen. Ihn zerreißen müssen, so es sich denn um einen denkenden wie füh-

lenden Menschen handelt. Was den Dichter durch Zeit und Räume treibt, Stalin und Hitler sehr präsent werden läßt, den Bogen schlägt von Mecklenburg 1945 nach Kroatien heute, von Kleists Homburg zu deutschen Offizieren - es ist ?eine verzweifelte Hommage an die Toten, die von den Lebenden Scham einfordern: Erst wenn die Revolution der Gerechten gesiegt haben wird, werden jene Toten ruhen können, die für die Utopie starben. Meist unschuldig. Aber da diese Revolution eine Angelegenheit der Lebenden ist, bleibt sie, was alles Werk der Lebenden nur sein kann: ein Fragment, eine blutige Selbstvernichtung, ein Imstichlassen der Toten, ein Inferno der Halbheiten und öffentlichen Beschämungen, eine tragische Konstellation aus Mut („Man zieht die Mütze nicht zweimal vor Panzern“), Einsicht („Ich weiss, dass ich nicht stärker bin als die Sowjetunion“) und Versagen („Die Ehre der Partei Was heisst hier Ehre/Und

schleppen unsresgleichen auf die Schlachtbank“). Mit dem Satz „Deine Blutspur wäscht meinen Namen weiss“ erklärt Mörder Stalin Mörder Hitler die Dialektik der Geschichte.

„Germania 3“ ist nach „Germania Tod in Berlin“ und „Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessing Schlaf Traum Schrei“ der Abschluß von Müllers deutscher Trilogie. Es ist von allen das schmerzlichste Stück, noch in seiner bösen Klarheit aber fast anrührend; eine Selbstbetroffenheit des Dichters stellt sich her, die wohl mit den Brüchen der Zeit und den Lebensumständen des Autors zu tun hat. Scheitern, Verrat, Zweifel - die Begriffe sind plötzlich so menschennah geworden. Und tiefe Trauer liegt über den Bildern. Lange, sehr lange schrieb er an diesem Stück, so oft schien es ihm, alle Türen fielen nur noch ins Schweigen.

Dies ist Müllers bohrende Frage, die keine Antwort weiß: Was ist an Sozialismus möglich

unter kommunistischer Diktatur? Müller stellt diese Frage nicht unter dissidentischen Vorzeichen, sondern unter dem Edikt der an die Klassenfronten geworfenen weltgeschichtlichen Veränderer Revolution ist nicht die unbefleckte Empfängnis, sondern der Höllenzyklus der Identität. Geschichte: der muskulöse Engel, der das sadistische Arsenal hütet. Das Volk, ewiger Sicherheitsfaktor dafür, daß die großen gerechten Dinge mißlingen (Hitler zu Stalin in der Reichskanzlei: „Sie werden wissen was sie an uns hatten/ Wenn überall der Mensch den Menschen frißt/Weil ihm der Platz nicht langt und nicht das Futter“ und: „Gegen die Lebenslüge des Kommunismus .Keiner oder alle' die einfache und volkstümliche Wahrheit ,Für alle reicht es nicht“, und Helene Weigel läßt Müller sagen: „Wer ist das Volk. Das Volk, wenn es gefragt wird, wählt Hitler“.)

Heiner Müllers Aufstieg zu den Grüften öffnet den Blick

auf die Wüste deutscher Kraftanstrengungen. Die Helden dieses Dramatikers retten sich im Stück (wie etwa Brecht) durch den Tod vor der Heuchelei jener Scheinkämpfe, die Namen trugen wie Reform oder Entstalinisierung. Arbeit am Berliner Ensemble nach Brechts Tod etwa wird gezeigt als Ersatz der Revolution durch Diskussion um Parabeln.

Die Verführung, die dennoch von der Weltrevolution ausgeht: In Müllers Bilderbogen des Scheiterns beruht sie auf einer seltsamen Bewahrung von Fremdheit, auf der felsenfest behaupteten Unversöhnlichkeit von Erfahrung und ständig neu produziertem Zwang zum geschichtlichen Handeln. Der stärker ist als die Erfahrung. „Ohne Inferno kein Paradies.“

Heiner Müller- Germania 3 -Gespenster am Toten Mann. Theaterstück. Kiepenheuer & Witsch Verlag Köln. 100 Seiten. 24,80 DM.