nd-aktuell.de / 15.10.2004 / Politik

Es wird Impulse für neue Proteste geben

Christine Buchholz über ihre Erwartungen an die »politisch breiteste Veranstaltung, die es gibt«

Christine Buchholz, Jahrgang 1971, ist in der noch jungen Sozialforums-Bewegung aktiv, Mitglied bei Linksruck und dieser Tage voller Erwartungen beim ESF in London. Mit ihr sprach Irene Köppe.


ND: Heute beginnt das Europäische Sozialforum in London. Wer wird sich an der Themse treffen?
C. Buchholz:
Auf dem Europäischen Sozialforum (ESF) werden sehr unterschiedliche Gruppen und Bewegungen zusammenkommen. Es wird international sehr bunt gemischt sein. Etwa 10000 Menschen werden von außerhalb Großbritanniens erwartet, allein 700 davon aus Osteuropa.
In Großbritannien selbst gab es Bemühungen, neben den politischen Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften auch Flüchtlingsverbände einzubeziehen. Und nicht zuletzt die muslimischen Gemeinden, die sehr aktiv in der Antikriegsbewegung waren.

Also eher ein Forum von Basisaktivisten und nicht so sehr eines von offiziellen Delegationen und Funktionären?
Es ist beides. Das ESF ist die politisch breiteste Veranstaltung, die es gibt. Neben vielen Basisgruppen wird das Forum zum Beispiel auch vom Londoner Bürgermeister Ken Livingstone und dem englischen Gewerkschaftsdachverband unterstützt.

Welchen Stellenwert hat das ESF für soziale Bewegungen? Ist es eher ein Sammelbecken für Ideen oder werden solche Foren aktiv Politik mitgestalten können?
Die Sozialforen sind vor allem ein Ort des Erfahrungsaustausches. Es wird versucht, die politischen Situation zu analysieren, es werden Positionen ausgetauscht und Strategien und Alternativen diskutiert. Gleichzeitig orientieren sich die Treffen aber auch sehr eng an den praktischen aktuellen Erfordernissen der sozialen Bewegungen: Initiativen wie der Europäische Aktionstag im April 2004 oder Proteste gegen den Irakkrieg sind auf Sozialforen entstanden.

Kann das Londoner ESF neue Impulse für die aktuellen Auseinandersetzungen um Sozialabbau und Globalisierung geben?
Auf jeden Fall. Die Gegenseite beruft sich auf angebliche Sachzwänge der Globalisierung und auf EU-Richtlinien, um soziale Leistungen zu kürzen. Aber in allen Ländern wird gleichermaßen argumentiert und die Betroffenen werden gegeneinander ausgespielt. Um dagegenzuhalten bedarf es aber des gegenseitigen Austausches - sowohl darüber, wie Sozialabbau in anderen Ländern durchgesetzt wird, als auch darüber, wie in diesen Ländern dagegen gekämpft wird. Mit diesem Wissen können auch die Proteste wieder wachsen.

Das heißt, das Sozialforum kann das gerade erlahmende Protest-Potenzial zu neuem Leben erwecken?
Ja, denn ich denke, dass dieses Potenzial durchaus noch da ist, allerdings der Großteil der Gewerkschaftsführungen die Montagsdemobewegung nie unterstützt hat. Bewegungen in den verschiedenen Ländern befruchten sich auch über das Europäische Sozialforum hinaus gegenseitig. Um aus dieser Zusammenarbeit dann auch koordinierte Proteste entwickeln zu können. Ich bin mir sehr sicher, dass solche Impulse auch vom Londoner ESF ausgehen werden.

Konkret?
Das ESF wird zwei Signale aussenden. Erstens wird zwei Wochen vor den Wahlen in den USA ein deutliches Nein zum Krieg und zu der Besatzung im Irak ausgesprochen. Und zweitens soll vom Sozialforum in London, an dem ja auch viele Gewerkschaften beteiligt sind, ein Signal ausgesandt werden, dass der Widerstand gegen den neoliberalen Sozialabbau weitergeht. Konkret in Form eines neuen europäischen Aktionstages gegen Sozialabbau im Frühjahr 2005.

Der Weg nach London ist für von Sozialabbau Betroffene wohl zu weit. Werden die vom »Geist des ESF« überhaupt erreicht?
Vor diesem Problem stehen wir bei jeder überregionalen Mobilisierung. Wichtig wird sein, dass die Delegierten aus den verschiedenen Organisationen und Netzwerken über die auf dem ESF gemachten Erfahrungen auch hier zu Lande berichten und so eine Verbindung zwischen denen, die hier bleiben müssen und dem Europäischen Sozialforum herzustellen. Wir haben damit auch schon gute Erfahrungen nach früheren Sozialforen gemacht. Viele von denen, die solche Berichten gehört haben, haben sich dann auch vorgenommen, das nächste Mal selbst zu einem Sozialforum zu fahren.