Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

»Klaps auf den Hinterkopf«

In Zeiten der Standortdiskussion stellen manche Umweltschützer wieder die Machtfrage / Echo auf Vorschlag von Jens Reich Von Oliver Geden

  • Lesedauer: 3 Min.

Knapp ein Vierteljahrhundert nach dem Beginn ihrer steilen Karriere herrscht in der Umweltbewegung Katerstimmung vor. Sah es für 1 die Umweltschützer lange Jahre so aus, als sei es nur eine Frage der Zeit, bis sich in der Gesellschaft ein grundlegender ökologischer Wandel vollziehe, machen sich mittlerweile Frust und Resignation breit. »Standort Deutschland« und Arbeitslosigkeit bestimmen die öffentliche Diskussion. Bereits erkämpfte Fortschritte, etwa bei der Bürgerbeteiligung in Planungsverfahren, werden durch die Regierungspolitik wieder zunichte gemacht. Selbst die Zahl der Aktiven in der Umweltbewegung nimmt ständig ab. In dieser Situation beginnen die Um-

weltschützer wieder vermehrt die Machtfrage zu stellen. Während ein zahlenmä-ßig zu vernachlässigender Teil die parlamentarische Demokratie aufgrund ihrer ökologischen Ineffizienz am liebsten gleich abschaffen und durch ökodiktatorische Modelle ersetzen will, stehen institutionelle Nachbesserungen der Verfassung im Vordergrund der Debatte.

Den Startschuß für diese Debatte gab 1995 der Biochemiker und Kandidat von Bündnis90/Die Grünen für das Bundespräsidentenamt, Jens Reich. In einem 5pje<7e/-Interview leitete er aus der Sorge um einen in der Zukunft angeblich schlagartig auftretenden ökologischen Kollaps die Forderung nach einer grundlegenden Veränderung der demokratischen Strukturen ab: »Ich bin vehement dafür, daß man ein Instrument schafft, das so laut befehlen kann, daß die Politik

endlich aufwacht. [...] Wir brauchen neben dem Deutschen Bundestag einen Ökologischen Rat [...]. Dieser Rat müßte

Dieser Rat soll nach Reichs Ansicht zwar ebenfalls von der Bevölkerung gewählt werden, allerdings nur alle zehn bis fünfzehn Jahre. Obwohl sich Reich damit noch im demokratisch-parlamentarischen Rahmen bewegt, antwortet er auf den Einwurf des Interviewers »Ihr Motto lautet offenbar >Mehr Diktatur wagen<?« mit einem offensiven »Ja. Es gibt Dinge, die muß man mit einem Klaps auf den Hinterkopf durchsetzen.«

Reichs Vorschlag löste einen heftigen, aber nur kurzen Sturm der Entrüstung in der Umweltbewegung aus. Mittelfristig aber meldeten sich zunehmend Anhänger des Modells »Ökologischer Rat« zu Wort. Der Bündnisgrüne Hartwig Berger, mittlerweile Vorsitzender des Umweltausschusses des Berliner Abgeordnetenhauses, forderte vor der Wahl im Oktober 1995 die Einrichtung eines ökologischen Rats in Berlin. In der Wuppertal-Studie »Zukunftsfähiges Deutschland« findet sich diese Forderung, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Reich, ebenfalls. Der deutsche Sachverständigenrat für Umweltfragen griff das Modell ebenfalls auf, selbst in der Ökologischen Plattform bei der PDS hängt man dieser Konzeption an.

Werden Öko-Räte von ihren Befürworten auch zumeist als notwendige Nachbesserung des demokratischen Systems präsentiert, so ist ihre mangelnde demokratische Legitimation doch kaum zu übersehen. Einmal gewählt, sind auch die Mitglieder des ökologischen Rats nur ihrem Gewissen verantwortlich, aber eben über einen weitaus längeren Zeitraum hinweg, als es Parlamentarier jetzt schon sind. Auch auf die Arbeit der Umweltverbände hätten ökologische Räte einen negativen Einfluß. Die Grenze zwischen Parteien und Verbänden würde sich zunehmend auflösen, Großorganisationen wie BUND, Nabu oder Greenpeace müßten ihre Ressourcen zeitweilig auf Wahlkämpfe konzentrieren. Der Stellenwert inhaltlicher Arbeit würde in der Umweltbewegung weiter zurückgehen, die Basisorientierung weiter abnehmen.

Es ist sicherlich notwendig, daß die Umweltbewegung institutionelle Veränderungen einfordert, damit ihre Anliegen angemessene Berücksichtigung finden. Sie sollte allerdings nicht auf eine demokratisch fragwürdige »Expertokratie« setzen, sondern für erweiterte Partizipationsmöglichkeiten aller Bevölkerungsschichten eintreten.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal