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Ost-West-Konflikt

Jutta Schmidt, stellvertretende ÖTV-Vorsitzende Zum Schulterschluß gibt's keine Alternative Von Rosi Blaschke

  • Lesedauer: 5 Min.

Jutta Schmidt

wurde vor vier Jahren zur stellvertretenden ÖTV-Vorsitzenden gewählt und zog nach Stuttgart um. Die 51 jährige studierte Technologin aus Frankfurt/Oder kandidiert wieder

Foto: AP

Am Wochenende begann der Gewerkschaftstag der mit 1,8 Millionen Mitgliedern zweitgrößten DGB-Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) in Stuttgart- es geht um Strategien gegen den Sozialabbau. Dazu gehört das Verhältnis Ost-West.

? Vier Jahre im ÖTV-Hauptvorstand haben Sie Ihre Vorhaben, auch ostdeutsche, durchsetzen können? Oder ist Stuttgart zu weit weg?

Die Aufgaben im Vorstand sind ja nicht nach neuen und alten Bundesländern geteilt. Jeder hat Politikfelder zu bearbeiten, die für die gesamte ÖTV und bundesweit gelten. Ich wollte von Anfang an gesamtdeutsch arbeiten. Wenn es ein Ressort Ostpolitik in der ÖTV geben würde, ginge das am gesamtgesellschaftlichen Anliegen unserer Gewerkschaft vorbei. Daß ich aber mit meiner Vergangenheit in 40. Jahren DDR den Blick ganz besonders nach Ostdeutschland richte, versteht sich fast von selbst. Ich habe versucht, Integrationsfigur zu sein, dafür zu sorgen, daß man mehr voneinander erfährt: Zusammenwachsen kann man nur, wenn man sich kennt. Die Zusammenarbeit in

den Gremien zu befördern, ist mir unterschiedlich gelungen.

? Wo gut?

Gut, denke ich, wenn es um die Interessen der Arbeitnehmer in der Hochschul- und Forschungspolitik geht. Die Probleme gleichen sich in Ost und West. Sind die ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen auf anderen länderübergreifenden Politikfeldern weniger präsent, finden ihre Probleme auch weniger statt. Ich unterstütze Erfahrungsaustausch und gegenseitige Hilfe. Ein Beispiel: der regionale Streik in der thüringischen Stra-ßenbauverwaltung. Mein Hauptaufgabenfeld liegt auf Bundesebene. Aber ich wäre gern öfter in den neuen Bundes-

ländern. Doch in der Tat - Stuttgart ist schon weit weg.

? Jetzt vor dem Gewerkschaftstag erhalten Ost-West-Gegensätze neue Nahrung. Es gibt Anträge aus Brandenburg, Sachsen, Thüringen, die Tarifrunden im öffentlichen Dienst künftig wieder getrennt durchzuführen, bzw. ein Vetorecht für die Ostdeutschen einzuführen. Die sind ja wegen des geringen Angleichungsschrittes empört. Geht's einen Schritt zurück?

Die Formulierungen in den Anträgen sind viel differenzierter, als sie jetzt an die Öffentlichkeit kamen. Es geht viel mehr um Prioritäten, Abstimmungsverfahren und nicht nur vordergründig um getrennte Verhandlungen. Der Kongreß als Souverän wird darüber befinden. Ich bin nach wie vor ein Verfechter gemeinsamer Tarifverhandlungen, kann aber die Wut der Ostdeutschen sehr gut verstehen. Die ÖTV hatte schon auf ihrem Vereinigungskongreß 1991 einen Antrag zur sozialen Einheit beschlossen. Nun aber sinken in den neuen Bundesländern die Realeinkommen. Das trifft für die Beschäftigten in den alten Ländern zwar auch zu, doch von einem anderen Niveau aus. Andererseits verstehe ich die Verweigerungshaltung der öffentlichen Arbeitgeber Ost nicht. Sachsens Ministerpräsident drohte mit Austritt aus der Tarifgemeinschaft der Länder. Das ist schlicht Erpressung und erkennt die Leistung der Ostdeutschen, die ja noch immer eine 40-Stunden-Woche haben, nicht an. Doch das eine ist, was wir politisch wollen, das andere, was wir durchsetzen können. Und meines Erachtens will die Politik die Angleichung Ost an West nicht. Null oder Minus waren die Forderungen der Landesregierungen.

? Die ÖTV mußte nicht zustimmen.

Die ÖTV hat alies genau abgewogen. Was wir erreichten, war ein Ergebnis der Schlichtung. Zähneknirschend wurde auch dem Tarifabschluß für den Osten zugestimmt. Ich war wütend und enttäuscht, und trotzdem habe ich die Hand gehoben. Man muß Alternativen haben, wenn man in Verantwortung eines Vorstandes dagegen ist. Auch eine große Gewerkschaft ist in ihrer Handlungsfähigkeit begrenzt.

? Die staatlichen Arbeitgeber werden versuchen, die Ost-West-Konflikte auszunutzen.

Wir haben einen unterschriebenen Tarifvertrag, der bis 1997 gilt. Doch jedes Auseinanderdividieren schwächt uns. Die ÖTV will und muß verhindern, daß der Osten zum Experimentierfeld für die ganze Bundesrepublik wird. Wenn wir nicht mehr an einem Strang ziehen, werden wir schnell in Einzelinteressen zerhackt. Für mich gibt, es keine Alternative zu Gemeinsamkeit und Schulterschluß in der Gewerkschaft. Man darf den öffentlichen Arbeitgebern kein Einfallstor öffnen. Die Problematik wird uns auf dem Kongreß sehr beschäftigen.

? Ein anderer Antrag, auch aus den neuen Ländern, möchte die Quotenregelung wieder aufheben - in einer Gewerkschaft, die von Frauen dominiert wird. Wie werten Sie das?

In der Summe ist knapp die Hälfte, örtlich aber wesentlich mehr, der Mitglieder Frauen. Aus meiner Erfahrung gibt es keine Alternative zum »muß«, wenn man Frauenförderung wirklich ernst meint. Die ÖTV vertrat jahrelang die Soll-Bestimmung. Sie führte nicht dazu, daß Frauen entsprechend ihrem Mitgliederanteil in die Entscheidungsorgane kamen. Auch wenn's manchem Mann wehtut - es gibt nichts anderes.

? Die Kürzung der Lohnfortzahlung bringt die Menschen auf. Ist der öffentliche Dienst durchgängig durch Tarifverträge gesichert?

Für die im öffentlichen Dienst Tätigen gilt die Lohnfortzahlung per Tarifvertrrag. Auch wenn er gekündigt würde, würde er fortgelten, sofern nicht ein neuer unterschrieben wird. Die Lohnfortzahlung sollte schon in der vergangenen Tarifrunde verhandelt werden, das haben wir nicht zugelassen. Dabei bleiben wir. Die Kolleginnen und Kollegen sind da an keiner Stelle bewegungswillig. Wir boten aber schon in der Tarifrunde '96 an, über Verträge zur Verringerung von krankheitsbedingten Fehlzeiten zu verhandeln. Wenn die Lohnfortzahlung angegriffen wird, stehen uns alle gewerkschaftlichen Kampfmittel zur Verfügung.

? Ruft die ÖTV zum Streik auf?

Auch dieses letzte Mittel ist nicht ausgeschlossen. Die Signale stehen bei uns auf allerhöchste Wachsamkeit.

? Wie steht es mit Solidaritätsstreiks mit anderen Gewerkschaften?

Das hat ÖTV-Vorsitzender Herbert Mai abgelehnt. Was nicht heißt, daß es keine Solidaritätsaktionen gibt. Entfachen die Unternehmer einen Flächenbrand, werden wir uns zu wehren wissen.

Fragen: Rosi Blaschke

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