nd-aktuell.de / 15.10.1996 / Politik / Seite 9

Die größte Öffnungsldausel

Gewerkschaft IG-Medien-Konferenz in Springen suchte nach Strategien, den Flächentarifvertrag zu retten Von Friedrich Siekmeier

Zum Jahresende hat der Bundesverband Druck (BDV) den Manteltarifvertrag für die Druckindustrie mit dem Ziel gekündigt, deutliche Verschlechterungen für die Beschäftigten zu erzielen. Das ist nur das augenfälligste Beispiel für die gemeinsame Strategie aller Arbeitgeber, übergreifende Tarifverträge in Deutschland grundsätzlich in Frage zu stellen.

Es ist wie vor langer Zeit«, heißt es in einem persönlichen Brief des Vorsitzenden der IG Medien, Detlef Hensche, an alle Mitglieder aus dem Bereich der Druckindustrie. Nicht wonnige Erinnerung beschwört der Gewerkschaftschef, sondern er ruft frühkapitalistische Zustände ins Gedächtnis: »Damals haben sich unsere Vorfahren für die Rechte eingesetzt, die uns jetzt genommen werden sollen.« Es geht um fast alles: Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Urlaubsdauer, Zuschläge für Schicht- und Nachtarbeit, die 35-Stunden-Woche, freier Samstag und Sonntag und aktuell vor allem darum, ob auch kranke Menschen weiterhin den vollen Lohn erhalten sollen.

Mit Worten sprechen sich die Druck-Arbeitgeber weiter für Flächentarifverträge aus, doch durch »Öffnungsklauseln« wollen sie die Möglichkeit einräumen, Betrieb für Betrieb die eigentlich verbindlichen Regelungen zu unterbieten, faktisch die Verträge außer Kraft zu setzen. Sofern die Firmen überhaupt

noch als Mitglied eines Arbeitgeberverbandes zur Einhaltung von Tarifverträgen verpflichtet sind. Mehr und mehr Unternehmer verlassen die Verbände. Anstelle unabdingbarer Tarifvertragsregelungen setzen sie auf »einen Wildwuchs betrieblicher und einzelvertraglicher Vereinbarungen«.

Die IG Medien hatte am Wochenende Vertreter aller Mitgliedsgruppen zu einer Tarifkonferenz nach Springen bei Wiesbaden eingeladen: nicht nur Gewerkschafter aus der Druckindustrie, sondern auch aus der Papierverarbeitung, aus Redaktionen von Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunkbetrieben sowie Künstler und Künstlerinnen, für die es bislang häufig überhaupt keine Tarifverträge gibt.

Eine neue Strategie muß nicht nur die IG Medien erarbeiten, alle Gewerkschaften stehen vor dem Problem der Tariferosion. Das verdeutlichten zum Schluß die für Tarifpolitik zuständigen Sekretäre anderer Gewerkschaften. Berthold Huber von der IG Metall nannte Zahlen für die Auflösung der für Verträge notwendigen Partner, der Unternehmerverbände: 1964 seien noch rund 65 Prozent der Arbeitgeber aus Metall- und Elektrotechnik Mitglied gewesen, 20 Jahre später waren es noch etwa 54. In den zehn Jahren bis 1994 beschleunigte sich die Austrittswelle, so daß nur noch 43 Prozent organisiert waren. 1996 dürften es, so Huber, weniger als 30 von Hundert sein, beziehe man Ostdeutschland in die Statistik ein, wo es weitgehend gar keine Tarifverträge gibt. Die größte Öffnungsklausel sei ein Zustand völliger Tariflosigkeit, beklagte Clemens Frenzen von der Gewerkschaft

Holz und Kunststoff (GHK). In Hubers Bereich Metallindustrie sank der Anteil der durch Tarifverträge geschützten Beschäftigten von 78 Prozent (1964) über 74 im Jahr 1984 auf 65 in 1994. Folglich war der Hauptdiskussionspunkt: Wie können Gewerkschaften für die nicht abgesicherten Beschäftigten einen kollektiven Schutz organisieren? Massenarbeitslosigkeit, der europäische Einigungsprozeß und Globalisierung erschweren zudem neue Wege, waren sich die Tarifsekretäre einig. Möglicher Ansatzpunkt könnte jedoch sein, vorübergehend mit nicht tarifgebundenen Unternehmen Firmentarifverträge zu schlie-ßen.

Wie doch wieder ein flächendeckender Tarifschutz erreicht werden kann, schildert Tony Dubbins. Er ist Präsident der britischen Mediengewerkschaft GPMU und hat vor drei Jahren nach der Aufkündigung des nationalen Drucktarifvertrages Betrieb für Betrieb einheitliche Forderungen durchgesetzt. Rund 1600 Firmentarifverträge waren die Grundlage, um im darauffolgenden Jahr 1994 dann doch wieder einen nationalen Vertrag abschließen zu können. Entscheidende Voraussetzung war ein einheitliches Vorgehen der Gewerkschaften in allen Betrieben.

Insoweit gab es auch Einigkeit bei den deutschen Gewerkschaftern für ihre weitere Strategie, daß der Egoismus einzelner Belegschaften auf jeden Fall von Schaden wäre. Darüber hinaus unterstrich Huber, daß auch ein einheitliches Vorgehen aller DGB-Gewerkschaften notwendig ist, um tariffreie Bereiche zu verhindern oder abzubauen. Insoweit sieht er auch im Flächentarifvertrag ein »Zukunftsmodell«. Daß noch eine viel weiter reichende Gemeinsamkeit für künftige gewerkschaftliche Tarifpolitik notwendig ist, machten Detlef Hensche und Tony Dubbins zum Abschluß deutlich: Übereinstimmend plädierten sie dafür, die Gewerkschaften müßten europaweit zusammenarbeiten und für Kernziele wie Arbeitszeit- und Urlaubsregelungen ihre Strategie und die Abwehr von Unternehmerwillkür abstimmen.