Herbstlaub macht die Tage kürzer

Ursache ist die Verlagerung von Masse näher an die Drehachse des Planeten

  • Margit Mertens
  • Lesedauer: ca. 3.5 Min.
Die farbenprächtigen, ausgedehnten Laubwälder der Nordhalbkugel bieten nicht nur alljährlich im Herbst ein buntes Naturschauspiel, sie beeinflussen auch die Geschwindigkeit, mit der sich die Erde dreht. Denn in der Summe verlagert eine riesige Biomasse ihr Gewicht um rund 50 Meter näher an die Drehachse. Das hat einen vergleichbaren Effekt, wie bei einer Eisläuferin, die bei der Pirouette die zuvor ausgestreckten Arme an den Körper legt: Sie wirbelt schneller.
»Wie jede globale Massenverlagerung verändert auch die Verlagerung großer Mengen Biomasse die Geschwindigkeit der Erdrotation«, erklärt Axel Nothnagel von der Uni Bonn. Er leitet eine Forschungsgruppe des Geodätischen Instituts, die die simultanen Messungen der Erdrotation durch je ein Paar der rund 30 großen Radioteleskope weltweit an etwa 150 Beobachtungstagen pro Jahr plant und die Auswertung der Daten koordiniert.
Der Grund für den Aufwand: Unsere Erde eiert und taumelt durch den Weltraum. Einerseits dreht sie sich unterschiedlich schnell um ihre Achse, so dass die Tageslänge sich binnen 24 Stunden um bis zu einer Millisekunde ändern kann. Außerdem geht die Erde nach. Über Jahrhunderte betrachtet werden die Tage länger, denn die Rotationsgeschwindigkeit verlangsamt sich um 1,4 Millisekunden pro Tag. »Das hört sich nicht sehr viel an, führt aber dazu, dass alle paar Jahre in unregelmäßigen Abständen eine Schaltsekunde in die Atomzeit, die unser tägliches Leben bestimmt, eingefügt werden muss«, erläutert Nothnagel. Diesen Bremseffekt fängt auch das fallende Herbstlaub nicht auf, das die Rotation kurzfristig beschleunigt und die Tage verkürzt. »Allerdings handelt es sich beim Laub erst um eine hypothetische Hochrechnung. Da stoßen unsere modernen Messinstrumente noch an ihre Grenzen.« Luft- und Meereszirkulationen wirken ohnehin weit stärker als Schwungrad der Erde.
»Ein weiteres Phänomen der Kreiselbewegung ist die Tatsache, dass die Rotationsachse am Südpol nicht etwa dort eine feste Position hat, wo die Fahne im Eis steckt, sondern sich im Laufe eines Jahres spiralförmig um die Fahne herum bewegt«, sagt Nothnagel. Dadurch ändert sich im Laufe eines halben Jahres die Position der Rotationsachse und damit auch jedes Punktes auf der Erde um bis zu 15 Meter.
»Wenn man also Straßenkreuzungen und andere Punkte auf der Erde zum Beispiel von einem stationären Satelliten aus betrachtet, der all diese Bewegungen natürlich nicht mitmacht, ergibt sich für jeden Punkt auf der Erde eine scheinbare Lageänderung von vielen Metern«, erklärt Nothnagel. Genau das ist der Grund, warum die Erdrotation ständig vermessen wird, denn die Positionen der GPS-Satelliten müssen laufend angepasst werden, damit die Navigationssysteme funktionieren und die Limousine nicht neben der Straße auf dem Acker fährt und das Schiff die Hafeneinfahrt trifft.
Die genaue Drehstellung der Erde zu kennen, wird bei Weltraumflügen wie den NASA- und ESA-Mars-Missionen besonders wichtig. Bei einem Flug von 190 Millionen Kilometern führt eine winzige Abweichung von nur einer Tausendstel Sekunde in der Erddrehung schon zu einer Verschiebung der Landeposition von 15 Kilometern. »Damit die Steuerungstriebwerke also zum richtigen Zeitpunkt betätigt werden, muss man auch die Erde genau genug im Griff haben«, stellt Nothnagel fest.
Verursacht werden das regel- und unregelmäßige Beschleunigen, Bremsen und Taumeln unseres Planeten durch die Verlagerungen gewaltiger Luft- und Wassermassen, die Hoch- und Tiefdruckgebiete, Meeresströmungen und Gezeiten in Bewegung setzen. »So dreht sich zum Beispiel die Erde langsamer in Zeiten, wo der so genannte El Niño Effekt im Pazifik sehr stark ist«, erklärt Nothnagel. Umgekehrt können die Schwankungen der Erdrotation Klimaänderungen nachweisen, da diese für 90 Prozent der Unregelmäßigkeiten verantwortlich sind.

Messverfahren
Paare von Radioteleskopen, die mehrere tausend Kilometer von einander entfernt stehen, peilen zeitgleich eine starke, punktförmige Radioquelle am Rande des bekannten Universums an, einen so genannten Quasar. Die Quasare dienen bei der Messung als Fixpunkt. Jede Station peilt in einem 24-Stunden-Zyklus 200 bis 300 vorher festgelegte Quasare an. Weil die Teleskope so weit voneinander entfernt sind, empfangen sie die Radiosignale mit einem geringen zeitlichen Abstand. Aus dieser Differenz berechnet der Computer die Drehstellung der Erde, aber auch den Abstand zwischen den Radioteleskopen. »So lässt sich nachweisen, dass Europa und Nordamerika sich nicht nur politisch voneinander entfernen«, erklärt der Geodät Axel Nothnagel. »Der Ab...

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