Tränen benetzte Briefe

Zeitzeugen über den Holocaust in der Ukraine

  • Susi Boxberg
  • Lesedauer: 3 Min.
»Wie lange wir in der Grube saßen, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, dass viel geschossen wurde, und zwar einzelne Schüsse und Maschinengewehrfeuer. Aber ich fühlte weder Kälte noch Hunger noch Feuchtigkeit. In der Dunkelheit ging ich zu dem Iwanowezki-Wäldchen, von wo die Schüsse gekommen waren und sah die Gruben. Ich hörte Schreie von lebendig begrabenen Menschen und sah ihre nackten Körper, Blut und betrunkene Deutsche. Da verlor ich das Bewusstsein. Was weiter geschah, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, dass ich vergeblich versuchte, aus der Grube herauszuklettern.« Es gelang ihr schließlich doch, »und ich ging zurück auf die Felder.... Nur ein Gedanke kreiste mir durch den Kopf. Ich hatte zusammen mit Toten in einer Grube gelegen und war von oben bis unten mit Blut beschmiert und ausgezogen worden, wie alle anderen, die man umgebracht hatte. Aber ich lebte!« Jelisaweta Brusch war 16 Jahre alt, als ihr dieses traumatische Erlebnis widerfuhr. Sie ist eine Jüdin aus der Ukraine, die den Holocaust überlebte. Eine von wenigen, die heute noch leben und über die Gräueltaten der Wehrmacht und einheimischen Polizisten berichten können. Sie und 85 weitere Zeitzeugen haben ihre Geschichte erzählt, aufgezeichnet von dem ukrainischen Historiker Boris Zabarko. In der Zeit des faschistischen Vernichtungsfeldzuges, der mit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begann, wurden in der Ukraine 1,5 Millionen Juden an mehr als 600 Vernichtungsstätten ermordet. Allein an zwei Tagen, dem 29. und 30. September 1941 wurden in Babi Jar bei Kiew 33771 Juden umgebracht. Auf Plakaten waren die Juden von Kiew aufgefordert worden, sich zu »Umsiedlungsmaßnahmen« einzufinden. Diesem Befehl waren über 30000 Menschen gefolgt, sie wurden zur Schlucht Babi Jar außerhalb der Stadt getrieben. Dort mussten sie ihre Wertgegenstände abgeben, sich vollständig ausziehen und in Zehnergruppen an den Rand der Schlucht stellen. Dann wurden sie niedergeschossen. »Ich denke oft darüber nach, wie es passieren konnte, dass Vater und ich überlebten«, sagt Naum Epelfeld. »Ein ganzer Staat arbeitet gegen uns. Mit einer starken Armee mit einem enormen Gewaltapparat: Gestapo, SD, Gendarmerie und schließlich die ukrainische Polizei.« Epelfeld war damals 13 Jahre. Ein Kind. So wie viele der Zeitzeugen in seinem Alter kann er all die Bilder von Toten, von Demütigungen an sich selbst und seinen Nächsten nicht verwinden. Die Erinnerungen peinigen die Überlebenden, die damals Kinder waren, bis heute. Sie hatten mit ansehen müssen, wie ihre Eltern, Großeltern und Geschwister ermordet wurden. Sie hatten unter großem Hunger und unter Kälte gelitten, unter Läuseplage und Flecktyphus. Sie waren als schutzlose Waisen durch ihr niedergebranntes Land gezogen, in Angst und auf der Flucht vor den Mördern. Es dürfte nicht verwundern, dass viele von ihnen nach der Befreiung durch die Rote Armee mit dieser weiter Richtung Westen zogen, um Rache zu üben. Wer kanns ihnen verdenken? Boris Zabarko, selbst Überlebender des Ghettos von Schargorod, nennt dieses Buch sein Hauptwerk, ein Gedenken an sein Volk. Erst Anfang der 90er Jahre entstanden Organisationen, in denen sich Juden engagieren konnten. Zuvor hatten die meisten geschwiegen. Aus Scham, aus Schmerz - und weil der Holocaust ein Tabu war. Einige Briefe, die Zabarko erreichten, waren mit Tränen übersät. 1999 erschien sein Buch in Kiew. Den Herausgebern der deutschen Übersetzung, Margret und Werner Müller, ist es zu verdanken, dass es 60 Jahre nach der Befreiung der Ukraine, auch bei uns zu lesen ist. Boris Zabarko: Nur wir haben überlebt. Holocaust in der Ukraine - Zeugnisse und Dokumente. Dittrich Verlag, 469S., geb., 24,80 EUR.
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