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Alter - Anfang von etwas Neuem

Zur Seele: Erkundung mit Schmidbauer

  • Lesedauer: 5 Min.
Die seelischen Probleme der Älteren (also der Gruppe zwischen 60 und 75) und der Alten sind so vielgestaltig wie die Menschen, die mit ihnen umgehen müssen. Wer genauer hinsieht, erkennt die Fälschung in einem Ausdruck wie »Altersstarrsinn«. Starrsinn als die Unfähigkeit, von dem als richtig und recht gewähnten abzuweichen, beginnt bereits im Kindesalter, wie jeder Erzieher weiß, der mit einem Trotzkopf zusammenprallt. Jugendliche und Erwachsene haben ihre starren Seiten. Diese sind kein Altersphänomen. Sie sprechen für eine überforderte seelische Abwehr. Eine entlastete Psyche ist frei und kann spielen, gleichgültig, wie alt sie ist. Die überlastete erstarrt. Wer altert, beobachtet an sich eine höhere Toleranz und Nachsichtigkeit so oft wie zunehmende Rigidität. Wenn wir die Neugier und Aufmerksamkeit einer Gruppe reisender Pensionisten in Florenz oder New York mit der passiven Haltung einer Schulklasse auf ihrem Ausflug in ein Museum vergleichen, können wir auch nicht mehr überzeugt sein, dass Jugend per se aufgeschlossen ist, Alter aber in stumpfem Dämmern verstreicht. Wenn in allen Debatten über Arbeitslosigkeit Flexibilität eingeklagt wird, heisst das auch, dass es von dieser postmodernen Tugend immer zu wenig gibt, egal wie alt die Betroffenen sind. Die subjektive Auseinandersetzung mit dem Alter beginnt meist bereits angesichts des 50. Geburtstags, ganz sicher aber angesichts des 60. Die sozialpolitische Grenze wird meist bei 65 Jahren gezogen. Die 30 und mehr Jahre, die ein Mensch nach dem Überschreiten dieser Altersgrenze in den entwickelten Gesellschaften noch leben kann, sind nicht weniger vielfältig als sein Leben vorher. Sie werden heute in das 3. und 4. Lebensalter bzw. in das »junge« und »alte« Alter unterteilt, wobei der Beginn des »alten« Alters zwischen 75 und 85 Jahren angesetzt wird. In dem auf und ab ihrer Stimmungen, angesichts der Schwankungen ihres Selbstvertrauens, ihrer Kräfte und ihrer Zuversicht suchen Menschen Halt bei etwas, das sich messen und zählen lässt. Seit wir unser Geburtsdatum wissen, ist das kalendarische Alter ein solcher Halt. Er sagt uns, wann es »Zeit« ist für etwas - für die erste Liebe, für den Abschluss der Ausbildung, für eine Gehaltserhöhung, für die Rente. Die Formulierung »ich bin dafür zu alt« mischt subjektive und objektive Gesichtspunkte. So kommt sie einem wichtigen Abwehrmechanismus gegen seelische Veränderungen entgegen: der Rationalisierung, der Produktion scheinbar logischer Gründe, der Vernunft des Stammtischs und der Bild-Zeitung. Da kalendarisches Alter unzweifelhaft festgestellt werden kann, geben sich die mit diesen objektiven Daten verknüpften Aussagen unangreifbar. Wenn »zu alt« über einen anderen gesagt wird, ist es in der Regel die Aufforderung zu unscharfem Denken. Bei einem älteren Mitarbeiter muss der Vorgesetzte nicht über eigene Führungsfehler nachdenken, bei einem älteren Schüler der Lehrer nicht über einen Mangel an pädagogischen Fähigkeiten, bei einem älteren Patienten der Arzt nicht über die Diagnostik von komplexen Beschwerdebildern. Es ist doch ganz einfach, es liegt am Alter, wenn der Mitarbeiter Probleme bereitet, der Schüler nicht lernt, der Patient nicht gesund wird. Im 19. Jahrhundert waren Schaubilder in den Fibeln beliebt, auf denen das menschliche Leben als Stufenpyramide dargestellt war. Auf der linken Säugling, Kleinkind, Schulkind, Jungfrau und Jüngling. Braut und Bräutigam krönten das Ganze. Dann der Abstieg: Elternschaft, rüstiges Alter, Greisenalter und Tod. Heute lösen sich solche Systeme auf. Die Bilder sind individualisiert. Trainierte Pensionisten schlagen ungeübte junge Männer im Sport. Eine 60-Jährige in Hollywood sieht jünger aus als eine 30-Jährige in den Slums. Die gegenwärtige Mischung aus Gültigkeit und Ungültigkeit der Lebensaltersrollen verwirrt viele Menschen, die durch keine festen Zuschreibungen mehr gehindert werden, sich lange Zeit »zu jung« zu fühlen, um dann irgendwann zu erkennen, dass sie »zu alt« geworden sind. Eine 52-Jährige, die mit großem Elan aus ärmsten Verhältnissen in eine akademische Karriere gefunden hat, vereinbart schockiert mit ihrem früheren Therapeuten einen Krisentermin. Sie hat erfahren, dass der Mann, mit dem sie vor sieben Jahren zusammen war, jetzt geheiratet hat, weil ein Kind unterwegs ist. Damals hat sie auch daran gedacht, schwanger zu werden, war aber nicht überzeugt genug von der Beziehung und wollte noch warten. Sie hat es sogar ein paar Mal darauf ankommen lassen, als sie mit ihm schlief. »Ich habe immer gedacht, es ist noch nicht so weit, es ist irgendwie zu früh, ich bin zu jung. Aber ich habe nie gedacht, dass es irgendwann wirklich zu spät ist!« Nur in einem Punkt ist das Alter für die Psychotherapie wirklich bedeutsam: als Alter der Probleme, der Symptome, über die jemand berichtet. Für die Erfolgsaussichten einer Behandlung ist das Alter der Symptome wichtiger als das Alter der Kranken. Wenn ein 25-jähriger, der seit seinem 14. Lebensjahr Drogen konsumiert, eine Therapie beginnen möchte, sind die Aussichten auf Erfolg weniger günstig als angesichts eines 66-Jährigen, der seit einem Jahr an Angstzuständen erkrankt ist. Gegenwärtig haben Frauen und Männer an der Pensionsgrenze noch rund 30 Jahre vor sich. Diese Spanne wird sich in Zukunft eher verlängern als verkürzen. Die emotionalen Probleme, die sich in diesen Jahren entfalten können, sind stürmischer als die der Dekaden vorher. Psychotherapie im Alter weist Parallelen zur Therapie von Heranwachsenden auf. Es geht um neue Strukturen, die gefunden werden müssen, und um den Abschied von Bestätigungen, die in der bisherigen Form nicht mehr funktionieren. Dr. Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Psychoanalytiker und Autor in München
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