Auf der Couch mit Mozart

Bundesbürger fühlen sich mehrheitlich als Genießer. Wer hätte das gedacht?

Im Ausland gelten die Deutschen gemeinhin als pflichtbewusst und fleißig, aber kaum sonderlich begabt für Genuss und Lebensfreude. Doch »La dolce vita« gibt es nicht nur in Italien oder Frankreich, auch die Bundesrepublik hat sich in den letzten Jahren immer mehr zu einem Genussland entwickelt. So sind fast 90 Prozent der Deutschen der Auffassung, dass sinnliche und geistige Genüsse für jeden Menschen wichtig und wertvoll seien und daher im Alltag größere Beachtung finden sollten. Und immerhin noch 71 Prozent behaupten, sich jeden Tag selbst einen kleinen Genuss zu gönnen - entweder am Arbeitsplatz oder weitaus häufiger in der Freizeit. Zu diesem überraschenden Ergebnis kommt »Die Große deutsche Genuss-Studie 2004«, die auf einer Befragung von rund 1000 erwachsenen Bundesbürgern basiert und in dem Buch »Genussbarometer Deutschland« jetzt zum ersten Mal komplett der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Doch selbst wenn die Deutschen in Sachen Genuss im Vergleich zu ihren europäischen Nachbarn aufgeholt haben, wie die Zahlen belegen: Genuss in Deutschland ist noch lange nicht dasselbe wie Genuss in Frankreich. Denn während die Franzosen am liebsten in Restaurants, Bars oder Cafes genießen, bevorzugt der teutonische Genussmensch das häusliche Ambiente. Zudem sei für die meisten Deutschen »Genuss mit etwas Gesundem und stärker mit Ruhe als mit Bewegung und Aktivität verbunden«, betonen die Publizisten Frank Maier-Solgk und Holger Neumann, die im ersten Teil des Buches die Ergebnisse der Studie vorstellen. Danach sind für 43 Prozent der Deutschen Kaffee, Tee und Kakao die Spitzenreiter unter den so genannten kleinen Genüssen, wobei es durchaus auch ein Cappuccino, ein Milchkaffee oder ein Latte Macchiato sein darf. Auf den Plätzen zwei und drei folgen Musikhören (38 Prozent) und Nichtstun (36 Prozent), danach erst kommen Essen, Fernsehen, Lesen, Alkohol trinken und Rauchen. Der geneigte Leser mag an dieser Stelle vielleicht stutzen: Fehlt da nicht etwas Wichtiges? In der Tat, es fehlt der Sex, der nach allgemeiner Einschätzung als Genuss par excellence gilt. Nicht so bei den befragten Frauen und Männern in Deutschland, von denen nur ganze 12 Prozent erklärten, Sex und erotische Zärtlichkeit gehörten zu den genussreichsten Aktivitäten ihres Lebens. Eine Ausnahme bilden lediglich die 18- bis 29-Jährigen. Hier sind immerhin 34 Prozent der Meinung, dass die Sexualität mit all ihren Facetten einen unverzichtbaren Lebensgenuss biete. Erstaunlich ist überdies, wie wenig Bedeutung die Deutschen dem Kunstgenuss beimessen, obwohl die hiesige Kulturlandschaft in der Welt ihresgleichen sucht: Es gibt 150 öffentlich getragene Theaterunternehmen mit 728 Spielstätten, 130 Theater- und Kulturorchester sowie rund 5000 öffentliche Museen, von denen wiederum 497 ausdrücklich der Kunst gewidmet sind. Die Zahl der Besucher kultureller Veranstaltungen liegt jedes Jahr im zwei- bis dreistelligen Millionenbereich, Tendenz leicht steigend. Warum die Deutschen dennoch nur selten die Kunst nennen, wenn sie nach ihren Genüssen befragt werden, vermag der Berliner Kulturwissenschaftler Dietrich Mühlberg nur so zu erklären: »Noch immer dürfte es als banausisch gelten, den Umgang mit den Künsten mit der Vorliebe für Pralinen und Zigaretten, für Wellness oder Partyszene in einem Atem zu nennen. Die "gebildeten Deutschen" dürfte es befremden, wenn ihre Kunstliebe solcherart auf Genussfähigkeit reduziert wird.« Diese elitäre Ignoranz hat aber auch ihre guten Seiten, denn da die »ernste Kunst« in Deutschland nicht als Genussmittel gilt, wird sie auch nicht extra besteuert, sondern mit öffentlichen Mitteln gefördert. Zusätzlich zu den kleinen Freuden des Lebens erstrebt jeder Mensch hin und wieder auch den etwas »größeren« Genuss, der in der Regel eine spezielle Vorbereitung erfordert. Wer nun allerdings glaubt, dass exzessives Einkaufen oder eine Weltreise bei den Deutschen ganz oben auf der Wunschliste stehen, sieht sich durch die Umfrage eines Besseren belehrt. Spitzenreiter bei den großen Genüssen ist - und das ist kein Witz - mit 32 Prozent das Erlebnis in der freien Natur. Es folgen Sport, Wellness zu Hause, Gespräche mit Freunden, Ausgehen, das eigene Hobby. Doch ähnlich wie bei den kleinen gibt es auch bei den großen Genüssen erhebliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern und Altersgruppen, wobei zwei Zahlen besonders ins Auge fallen: So werden sportliche Aktivitäten erstaunlicherweise nicht von jungen Leuten, sondern von den über 60-Jährigen (35 Prozent) am häufigsten als Genuss empfunden. Nicht minder überraschend ist die Tatsache, dass entgegen einem verbreiteten Klischee nicht nur Frauen das persönliche Gespräch unter Freunden lieben (26 Prozent), sondern auch Männer (24 Prozent). Doch genug der Statistik. Denn das Buch enthält außerdem eine beeindruckende Sammlung von Aufsätzen, in denen 25 Autoren und Experten die unterschiedlichen Spielarten des Genießens beleuchten und die markantesten Genießertypen charakterisieren. Am weitesten verbreitet sind in Deutschland die so genannten Couchgenießer. Das sind Menschen, für die Genuss gleichbedeutend ist mit Ruhe und Entspannung. Sie genießen deshalb in der Regel allein und nach Feierabend, um sich vom Stress des Alltags zu erholen. Oft genügen ihnen dafür eine Tasse Tee, ein kleiner Spaziergang im Park oder eine CD mit Klaviermusik von Mozart. Für Geschmacksgenießer hingegen ist Genuss an Konsum gekoppelt und daher oft ein recht teures Vergnügen. Der bekannte Werbeslogan »Man gönnt sich ja sonst nichts« dürfte vielen Geschmacksgenießern aus der Seele sprechen. Und das sind immerhin 27 Prozent aller Deutschen, die vermutlich am ehesten dem Bild des Hedonisten entsprechen, der wie »Gott in Frankreich« leben möchte, ohne über die Folgen seines Tuns viel nachzudenken. Die meisten Anhänger findet diese Lebensphilosophie übrigens in Bayern, während die Ostdeutschen sich mehrheitlich gegen den ungezügelten Genuss aussprechen, da dieser in der Regel egoistisch sei und auf Kosten anderer gehe. Jeweils ein Sechstel der Befragten gelten der Studie zufolge als Erlebnis- bzw. Alltagsgenießer. Erlebnisgenießer suchen den Kick vorwiegend außer Haus: im Kino, auf einer Party, im Fitness-Studio, bei einem Konzert. Zwar darf auch bei ihnen das Vergnügen durchaus etwas kosten. Doch anders als der typische Geschmacksgenießer, der am liebsten allein dem Genuss frönt, verbringt der Erlebnisgenießer seine Freizeit eher in Gesellschaft. Darüber hinaus verfügen manche Menschen über die beneidenswerte Fähigkeit, nahezu jeder Tätigkeit etwas Genussvolles abzugewinnen. Sie benötigen dafür weder Geld noch besondere Vorbereitung und haben überdies viel Spaß an Sex, Erotik und Zärtlichkeit: die Alltagsgenießer. Auch wenn das Buch sich darüber ausschweigt, darf man getrost davon ausgehen, dass das Verbreitungsgebiet dieser Genießers...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.