Erinnerungsformel

Feuchtwanger-Preis an Edgar Hilsenrathfür sein Gesamtwerk

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: ca. 3.0 Min.
Als im Jahre 1964 in Deutschland erstmals Edgar Hilsenraths Ghetto- Roman »Nacht« in einer Minimalausgabe erschien - der Autor lebte damals noch in Amerika - war das ein Schock. Ein solches »Epos des Grauens« über die »Menschennacht« hatte noch keiner gelesen. Nach Literarisierungen, Glättungen, »Bewältigungsversuchen«, wenn nicht Verschweigen der historischen Gräuel hatte der jüdische Autor völlig unakademisch, unbürgerlich, »unmoralisch«, aber mit höchstem moralischem Anspruch geschrieben. An diesem Buch schieden sich die Geister. Der Leser wurde zum Bekenntnis gezwungen, zum Pro oder Contra. Hier hatte einer den Versuch unternommen, Unsagbares zu sagen, Unerzählbares zu erzählen. Das war ein Bericht aus dem Inferno. Indessen hat Edgar Hilsenrath mit seinem großen Romanwerk weiter gegen die Sprachlosigkeit angeschrieben und dabei geradezu Zauberformeln der Vielstimmigkeit gefunden. Manchmal lapidar, ironisch, oft komisch und immer vielschichtig gibt er den sechs Millionen ermordeten Juden die Stimme zurück und mit ihnen allein in Kriegen und Massenmorden Vernichteten. Er schreibt fast wie ein Besessener gegen das Vergessen, schreibt Geschichte in Geschichten.Am Samstagabend wird er von der Akademie der Künste mit dem Lion-Feuchtwanger- Preis für historische Prosa geehrt. Dem Dittrich Verlag ist zu danken, dass Edgar Hilsenraths Gesamtwerk neu zugänglich wird. Nach »Fuck America - Bronskys Geständnis« ist in diesem Jahr »Jossel Wassermanns Heimkehr« in der auf elf Bände angelegten Werkausgabe erschienen. In diesem wunderbaren Schtetl-Roman, der so ganz ohne Nostalgie und modische Folkloristik ist, hat das Erinnern besonders viele Stimmen. Wir erinnern uns! Wer könnte diese herrlich ironische Szene je vergessen! Da ist doch tatsächlich einmal der österreichische Kaiser Franz Joseph in das - damals noch gar nicht so - Gott verlassene jüdische Städtchen Pohodna gekommen und wäre dort beinahe an einem Salzhering erstickt, hätte die uralte Jüdin Jente ihm nicht forsch in den Schlund gegriffen, den Fisch herausgezogen und ihm so das Leben gerettet. Worauf sich der Kaiser mit der Gleichstellung der Juden revanchiert haben soll. Wer diese und all die anderen Geschichten aus der untergegangenen ostjüdischen Welt noch nicht gelesen hat, sollte es schleunigst nachholen. Aus dem informativen Nachwort von Helmut Braun erfährt der Leser auch zugleich einiges über den Autor, da der Herausgeber die Lebensstationen des Jungen Edgar Hilsenrath zum Roman in Beziehung setzt. »Manche Menschen werden weinen, wenn sie es lesen. Und das ist gut so, denn unsere Zeit braucht Tränen, um nicht zu vergessen, hat Andrzej Szczypiorski gesagt. Da ersteht mit Pohodna, nahe Czernowitz, noch einmal der kleine Weltkreis, »ein farbiger Bilderbogen« des jüdischen Schtetl mit Synagoge, Mikwe, Caféhaus, Schenke und Schlachthäusern und den liebenswerten, bisweilen skurrilen Menschen wie beispielsweise dem Wasserträger Jankl, der heimlich die bucklige Rifke liebt. All das erzählt der reiche Matzenfabrikant Jossel Wassermann in seiner Villa am Zürichsee seinen Anwälten im Spätsommer 1939. Er hat sein Testament gemacht und seinen Sarg und sein Geld Jankl und seiner Heimatstadt Pohodna vermacht. Aber er wird - auch im Sarg - nie heimkehren, denn der Krieg beginnt und damit die grausame Judenvernichtung. Pohodna, so schreibt Helmut Braun, heißt »Dorf der Behaglichkeit«, aber auch »Schinderdorf«. Prolog und Epilog berichten von einem Abstellgleis hinter Pohodna; wo ein Güterzug voller Menschen steht. Die Fracht »ist schon abgeschrieben«. Aber der Rebbe versteckt die vielen Geschichten und Stimmen der Juden auf dem Dach des Zuges. Dort hocken sie, und der Wind trägt sie fort. Edgar Hilsenrath hat sie ihm abgelauscht, hat sie auf seinen Weg um die halbe Welt mit nach Palästina/Israel und Amerika genommen und sie wieder zurück nach Europa gebracht. Zwischen Hilsenraths erstem Roman »Nacht«, »Fuck America« und »Jossel Wassermanns Heimkehr« liegen Welten und hinter ihnen ...

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