Hüteriche und Wüteriche

Dresdens »Weber« und die Freiheit der Kunst

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.
Ruhe in Frieden. Und dies in Ewigkeit? Die Ewigkeit dauert für einen gestorbenen Dramatiker siebzig Jahre. Fortan ist sein Werk, es klingt sehr merkwürdig: frei. Frei zu einer Verwendung, die manchem wie Schändung klingt. Dann nämlich, wenn die Regisseure mit ihren Bearbeitungs-Ideen heranrücken, mit unbedingtem Willen zur Vergegenwärtigung. Ein Dichter wie Brecht ist noch eine kleine Weile geschützt. Dass Einar Schleef Anfang der neunziger Jahre dem »Puntila« seine Militärmäntel überwarf und ausgerechnet am Berliner Ensemble, im Tempel-Inneren sozusagen, aus einem einzigen Puntila und einem einzigen Knecht Matti ganze Heerscharen machte - die Erlaubnis dafür mutete wie eine unwirkliche Milde von Brechts Erben an. Die sonst sehr bedacht wachen. Brecht hat's gut. Auch Gerhart Hauptmann zum Beispiel. Sagen die Hüteriche, aber sie fürchten wohl schon die Vogelfreiheit. Warte nur balde, sagen die Wüteriche und setzen schlichtweg auf die Zeit. Volker Löschs Dresdner Inszenierung von Gerhart Hauptmanns »Die Weber« hat den uralten Streit neu angefacht: Was darf die Kunst? Es ist gar kein Streit: Die Kunst darf fast alles. Versuchen. Wirklich alles! Und wo sie mal nicht alles darf, weil ein Gericht, nach Klage, gegen sie einschreitet, da fällt zwar ein juristischer Bescheid, welcher die Kläger befriedigt, einem Beleidigten die Ehre rettet und das öffentlich angemahnte (oder nur behauptete) Maß an Sitte wieder herstellt. Aber: Das Urteil gegen die Kunst bleibt eine peinliche Entscheidung, und sie fällt, so ethisch begründet auch immer, stets auf die Gesellschaft zurück. So ein Urteil offenbart einen Zustand, der nicht zur Demokratie passen will, man nennt ihn: Zensur. Volker Lösch hat Hauptmanns Stück mit rüder Stimmungsprosa aus dem sozialen Milieu der heutigen Kapitalismus-Verlierer angereichert. Wutäußerungen, die vor Mord nicht zurückschrecken. Ein Chor aus Arbeitslosen und sonstigen Verlierern. Sabine Christiansen zum Beispiel wird mit Erschießungslust bedroht, auch Milbradt und Schröder werden arg beschimpft. Dagegen kann man anschreiben, damit kann man sich auseinander setzen, und auch in dieser Zeitung haben wir gefragt, wie sehr uns allen das Prinzip der Verächtlichmachung schon in Fleisch und Blut übergegangen ist, derart, dass es inzwischen zum meinungsmachenden Motor für öffentliche Aufmerksamkeit wurde. Michael Glos bezeichnete dieser Tage zum Beispiel Außenminister Fischer im Bundestag, im Zusammenhang mit der Zuwanderungspolitik von Rot-Grün, als »Zuhälter«, entschuldigte sich zwar später, aber so ein Wort, das er gegen den Minister verwendete, macht in den Medien natürlich die größere Wirkung aus. Hält sich. Schlägt durch. Dabei müsste Glos doch schon beim Blick in den Spiegel erkennen, dass er wahrlich kein Kunstwerk und also zur rhetorischen Vorsicht verpflichtet ist. Christiansen klagte gegen »Die Weber«; Hauptmanns Erben, vertreten durch den Bühnenverlag Felix Bloch Erben (Berlin), erwirkten beim Landgericht Berlin eine einstweilige Verfügung gegen die Chorszenen. Dresdens Theater kam so in die Schlagzeilen. »Die Weber« sind wieder im Gespräch. Hätte Sabine Christiansen nicht geklagt und hätten die Erben nicht Einspruch gegen Texteinschübe der Regie erhoben - die Inszenierung wäre in ihrem regionalen Kraftfeld verblieben. Das ist das Traurige, Bedenkliche, Bezeichnende: Nur eine juristische Empörung gegen die Kunst sichert dieser die Wirkung. Nur der Ordnungsruf gibt dem Theater landesweit eine hörbare Stimme. So dass selbst diejenigen aufmerken, die man nie im Theater sieht, die es gar nicht brauchen. Auf der einen Seite also das Persönlichkeitsrecht Einzelner, auf der Gegenseite das Recht des Theaters, soziale Momente gerade eines Stückes wie der »Weber« herauszukehren. Unter heutigen Aspekten: Der schlesische Aufstand von 1844 hat über verschiedene historische Stufen zu einer demokratischen Gesellschaft geführt, in der die Armen erneut den Widerstand proben - aber nur noch rhetorisch, nur noch auf der Barrikade, die man geringschätzig den Stammtisch nennt. Siehe Hartz IV: Erst Erschütterung und Entsetzen, dann Entladung des Zorns durch Demonstrationen, schließlich Besänftigung oder »Stabilisierung des Protestes auf niedrigem Niveau«, wie es im Selbstbelügungsjargon derjenigen heißt, die der veränderungsmüden Realität nicht gern ins Auge sehen. Dresden hat sich geweigert, Hauptmanns Stück rein historisch zu spielen, das wäre nurmehr ein Dokument des Vergänglichen, des Wirkungslosen, wahrlich kein Anlass mehr für eine Inszenierung im trüben November 2004. Nein, Theater hat schon immer davon gelebt, einen dramatischen Text zu benutzen; Theater ist wie keine andere Kunst ein Verarbeitungshandwerk aller Schwestergattungen, aller geistigen und politischen Einflüsse der jeweiligen Zeit. Der Text ist Grundlage, mehr nicht. Löschs »Weber« haben somit zu dem geführt, was sich mit der Inszenierung von 1894 im Deutschen Theater Berlin vergleichen lässt: Wilhelm II. kündigte die Kaiserloge, weil das Preußische Oberverwaltungsgericht das Stück erst verboten, dann doch freigegeben hatte. Nun sind wir also wieder in Preußen, und das mitten in der Demokratie. Hauptmanns »Weber« im Kern getroffen: ein Stück über unerträgliche Zustände, die auf der Bühne ihren Ausdruck erfahren. Die Klage der Erben wurde begründet mit »gravierenden Eingriffen in die Wirkungsintensität« des Textes. Oft sind aber Eingriffe nötig, um eine verloren gegangene Wirkungsintensität erst wieder herzustellen. Erst durch Schleefs radikal textumwühlende Inszenierung wurde aus Hochhuths »Wessis in Weimar« am BE ein großer Erfolg (eine wortgetreue Aufführung unter der Regie des Autors geriet kurze Zeit später in Hamburg zur lähmenden Biederkeitsparty). Castorfs Regie machte aus Schillers »Räubern« (und übrigens auch aus Hauptmanns »Webern«) erregende Gegenwartsstoffe; dies trifft auch auf seine Version von Tennessee Williams' »Endstation Sehnsucht« zu - auch wenn die Erben daraufhin den Titel verweigerten und die Inszenierung nun »Endstation Amerika« heißt. Becketts Erben versagten kürzlich einer deutschen Aufführung von »Endspiel« das Bühnenrecht, weil Frauen Männerrollen spielen sollten. Elfriede Jelinek dagegen war hoch glücklich darüber, was Schleef und Schlingensief aus ihren Vorlagen machten. Auch Regisseure selbst klagen mitunter: Als die Intendanz der Dresdner Semperoper wegen der Zuschauer-Erwartungen an eine Operette »Die Csardasfürstin« zu entschärfen suchte (Totentänze erinnerten an die Grauen des Ersten Weltkrieges), da ging Peter Konwitschny entschlossen vor Gericht. In der Debatte um Wert und Willkür des modernen Regietheaters scheint sich die Anwaltschaft der Autoren gestärkt zu fühlen. Frontstellung allenthalben. Doch nie kann ein Gericht einen Präzedenzfall schaffen, einen Maßstab, eine gültige Rechtslage. Der Streit geht stets von Einzelfall zu Einzelfall, von Einzellaune zu Einzellaune. Immer bleibt die Kunst moralischer Sieger, auch da, wo sie in die Schranken gewiesen wird. Wie bereits in der »Orestie« (ein Chor aus Dresdner Bürgern), hat das Schauspiel der sächsischen Regierungsstadt mit den »Webern« ein Experiment der Anstößigkeit weg vom schönen Theater gewagt. Das bleibt. Auch wenn der Chor fortan gemäßigter von der Bühne herab deutsche Zustände in heftige Wortballungen fasst.
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