Nach Belgrad und Tbilissi nun Kiew?

Der Westen trug kräftig zur Polarisierung bei

  • Manfred Schünemann
  • Lesedauer: ca. 3.5 Min.

Die Ereignisse in Kiew gleichen den Szenarien der Machtwechsel in Belgrad und Tbilissi: Massenproteste gegen Wahlfälschungen, demonstrative Machtansprüche der Opposition und massive Unterstützung des Wunschkandidaten aus dem Ausland.

Tatsächlich machen auch Teilnehmer der Proteste keinen Hehl daraus, welchen Vorbildern sie folgen. Indessen überdeckt dies - ebenso wie Fernsehbilder und Korrespondentenberichte - die grundsätzlichen Unterschiede zwischen der Situation in der Ukraine und jenen in Serbien und Georgien. In der Ukraine verdeutlicht das Wahlergebnis - unabhängig davon, ob es Fälschungen gab oder nicht - vor allem die tiefe Zerrissenheit der Gesellschaft über die Kernfrage der ukrainischen Staatlichkeit: Einbindung in die westliche »Wertegemeinschaft« oder Erneuerung und Vertiefung der »geistig-kulturellen Gemeinschaft« mit Russland. Diese Grundfrage ist so alt wie das Streben nach unabhängiger ukrainischer Staatlichkeit. Die Differenzen zwischen den politischen, geistig-kulturellen und wirtschaftlichen Eliten über diese Grundfrage konnten in den letzten Jahren durch eine mehr oder weniger erfolgreiche Balancepolitik gegenüber dem Westen (»europäische Orientierung«) und Russland (gemeinsame Wirtschaftszone) ausgeglichen werden, so dass sich ein - wenn auch brüchiger - nationaler Konsens herausbildete. Mit dem Erstarken der national-patriotischen Oppositionsbewegung, die traditionell ihre Basis in der Westukraine und unter Intellektuellen hat, spitzten sich die Auseinandersetzungen um die künftige Orientierung jedoch schon vor den Parlamentswahlen 2002 erneut zu. Vor der Präsidentenwahl setzten beide politische Lager zwecks Mobilisierung des jeweiligen Wählerpotenzials auf Polarisierung: Sie verkürzten die Wahlentscheidung auf eine »Schicksalswahl« zwischen Ost- oder Westbindung. Das Wahlergebnis widerspiegelt diese Entwicklung anschaulich. Da beide Lager potenziell fast gleich stark sind, lassen sich eine längerfristige Konfrontation und Zuspitzungen nicht ausschließen. Aus einer solchen Entwicklung erwächst zumindest die Gefahr der Unregierbarkeit des Landes, der weiteren Verzögerung dringend erforderlicher Gesellschaftsreformen und einer Destabilisierung in der gesamten Region. Die Ukraine ist der Schnittpunkt wirtschaftlicher, politischer und geostrategischer Interessen. So ist es nicht verwunderlich, dass sowohl Russland als auch die USA und die Europäische Union bemüht sind, ihre jeweiligen Interessen durchzusetzen und politisch in der Ukraine abzusichern. In seltener Offenheit unterstrich das CSU-Landesgruppenchef Michael Glos am Dienstag im Bundestag, als er betonte, dass eine westorientierte Ukraine im deutschen Interesse liege und Deutschland daher einen westlich orientierten Präsidenten unterstütze. Im Wahlkampf - und das setzt sich fort - blieb es aber nicht bei verbaler Unterstützung. Viktor Justschenko wurde finanziell, personell und logistisch massiv unterstützt, was nicht wenig zur Polarisierung im Lande beigetragen hat. Schon lange vor dem Wahltermin wurde die Möglichkeit fairer und freier Wahlen in der Ukraine angezweifelt und im Falle der Nichtwahl des Wunschkandidaten Justschenko mit Sanktionen gedroht. Gleichzeitig vermieden es aber sowohl Deutschland als auch die EU hartnäckig, der Ukraine eine klare Perspektive in der Union einzuräumen, was viele Wahlbürger offensichtlich zu der Überzeugung führte, dass der Platz der Ukraine wohl doch eher bei Russland liege. Während die EU-Staaten vor allem ein wirtschaftliches Interesse an der Ukraine haben, kommen bei den USA strategische Überlegungen hinzu. Eine Einbindung der Ukraine in die NATO würde den Zugriff Russlands auf das Potenzial der Ukraine weitgehend einschränken und seinen Einfluss im postsowjetischen Raum weiter reduzieren. Eine solche Entwicklung, die den russischen Interessen naturgemäß widerspricht, wollte und will Russland möglichst verhindern. Deshalb wurde - ebenfalls mit allen Mitteln - Ministerpräsident Viktor Janukowitsch unterstützt, der als Garant für Kontinuität im russisch-ukrainischen Verhältnis steht. Für Wladimir Putin kommt hinzu, dass er sich innenpolitisch einen »Verlust« der Ukraine nicht leisten kann, da das als (weiteres) Zugeständnis an den Westen gewertet würde. Die weitere Entwicklung hängt vor allem von der Bereitschaft beider Machtgruppierungen zum Kompromiss ab. Ein solcher Kompromiss könnte neben einer Überprüfung der Wahlergebnisse auch eine Verlängerung der Amtszeit des derzeitigen Präsidenten Leonid Kutschma und die Verabschiedung der Verfassungsreform zur Einschränkung der Machtbefugnisse des künftigen Präsidenten zum Inhalt haben. Der Zeitraum für die jetzt festgelegte Prüfung der Einsprüche gegen das Wahlergebnis durch das Oberste Gericht könnte für eine solche Kompromissfindung genutzt werden. Im Moment scheint aber die Juschtschenko-Opposition - bestärkt durch die Haltung des Westens - dazu nicht bereit zu sein. Zumindest deuten die Umwandlung der Wahlstäbe der Justschenko-Partei in parallele Verwaltungsstrukturen, die Blockade von Regierungsbehörden und die Forderung nach Rücktritt der Regierung auf die Absicht einer sofortigen Machtübernahme unter Umgehung der Verfassung hin. Verantwortungsvolles politisches Handeln muss aber im Interesse eines friedlichen Ausgangs des Machtkampfes vor allem darauf gerichtet sein, eine Lösung des Konflikts auf der Grundlage der verfassungsmäßigen Ordnung durchzusetzen. Dazu können die EU, die OSZE und andere Gremien einen wesentlichen Beitrag leisten, wenn sie auf einseitige Parteinahme verzichten und auch die Wahlentscheidung ...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.