Zu Füßen des Lenin-Denkmals

Ukraine: Umstrittene Wahlergebnisse, anhaltende Massenproteste und Interessenkonflikte / In Charkiw stehen sich zwei Lager gegenüber

  • Silke Erdmann, Charkiw
  • Lesedauer: ca. 2.0 Min.

Charkiw ist mit 1,4 Millionen Einwohner die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Sie liegt im Osten, nahe der Grenze zu Russland, und hat mehrheitlich russischsprachige Bewohner.

»Wir haben jetzt drei Präsidenten und ich verstehe gar nichts mehr.« Swetlana M., 62-jährige Rentnerin, ist von den Ereignissen überfordert. Auf dem Platz der Freiheit in Charkiw (russisch Charkow) versammeln sich seit Tagen Menschen, die sich wie bei einem Fußballspiel auf zwei Teams verteilen. Zu Füßen des Lenin-Denkmals stehen die Leute in Orange, der Farbe der Opposition. Auf der anderen Seite, vor dem Rathaus, demonstrieren Menschen in Blau für Janukowitsch.
Im Justschenko-Lager behauptet man, die anderen hätten bei der Stichwahl am Sonntag kräftig nachhelfen müssen, um die offiziell verkündeten 70,25 Prozent für Janukowitsch zu erreichen. In einigen Wahllokalen sollen Janukowitsch-Wähler 20 Griwna, eine Flasche Wodka und Nahrungsmittel erhalten haben. Und 100000 wahlberechtigte Bürger hätten nicht abstimmen dürfen, weil ihre Passdaten mit den Angaben in den Wählerlisten nicht übereinstimmten.
Der Platz der Freiheit jedenfalls füllte sich nach der Wahl zunächst mit Justschenko-Anhängern. Zelte wurden aufgebaut, ein Supermarkt versorgt die Demonstranten mit Nahrungsmitteln.
Kurz darauf erging in der Karasin-Universität die Anweisung, die Dozenten mögen ihre Studenten auf den Platz schicken, für Janukowitsch zu demonstrieren. Die Anweisung wurde zurückgenommen, dennoch versammeln sich auf der gegenüberliegenden Seite des Freiheitsplatzes Anhänger des Ministerpräsidenten. Blau-weiße Buden werden aufgebaut, eine Bühne, Lautsprecher. Kleinbusse fahren durch die Stadt und rufen auf: »Wir sind ein freies Land, wir haben ein freies Mikrofon. Jeder Bürger darf sprechen.« Die meisten, die kommen, bleiben ein paar Minuten, hören sich die Reden an und gehen. Die andere Seite hält mit Justschenko-Rufen und Gesängen dagegen.
Der Schewtschenko-Park ist mit orangenen Bändern verziert und auf dem Lenin-Prospekt steht in orangener Schrift: »Kämpft für Justschenko!« Das verunsichert selbst die Gegner: Während einer Kundgebung ertönt auf der blau-weißen Seite der Ruf: »Für Justschenko - äh - für Janukowitsch!« Für einen Moment haben alle auf dem Platz etwas gemeinsam: Einen Anlass zum Lachen in dieser Zeit der Ungewissheit. Inzwischen hat Charkiws Stadtrat in Kiew um eine erneute Auszählung der Stimmen gebeten - in der Hoffnung, dass sich die Lage dann normalisiert. Die Opposition deutet dies bereits als Eingeständnis von Wahlfälschungen.

Zerrissenes Land?
Nach dem von der Wahlkommission am Mittwoch zunächst verkündeten offiziellen Wahlergebnis, das von der Opposition angefochten wird, erhielt Viktor Janukowitsch 15093691 Stimmen (49,46 Prozent), während für Viktor Justschenko 14222289 Wähler stimmten (46,61 Prozent). 707284 Ukrainer (2,31Prozent) stimmten für keinen der beiden Kandidaten.
In 16 Gebieten und der Hauptstadt Kiew lag Justschenko vorn, in 9 Gebi...

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