nd-aktuell.de / 13.10.2001 / Politik

Der fünfte Aggregatzustand

Physik-Nobelpreisträger bestätigten Einsteins Genie

Martin Koch
Die Bundesrepublik Deutschland hat einen neuen Nobelpreisträger im Fach Physik. Gemeinsam mit den US-Amerikanern Eric A. Cornell (39) und Carl E. Wieman (50) wurde am Dienstag der 43-jährige Wolfgang Ketterle für die Erschaffung eines neuen Materiezustandes mit dem begehrtesten Wissenschaftspreis ausgezeichnet. Die Forscher hätten »Atome dazu gebracht, unisono zu singen«, heißt es in der Begründung der Königlich-Schwedischen Akademie der Wissenschaften. Theoretisch ist dieser atomare Gleichklang schon seit etwa 75 Jahren bekannt. Im Anschluss an die Berechnungen des indischen Physikers Satyendra Nath Bose hatte Albert Einstein 1924 vorausgesagt, dass spezielle Atome bei sehr tiefen Temperaturen allesamt in den niedrigsten Energiezustand übergehen und zu einer Einheit verschmelzen würden. Dieser Zustand der Materie wird heute als Bose-Einstein-Kondensat bezeichnet, weil seine Erzeugung der Kondensation von Wasserdampf zu einem Tropfen ähnelt. »Das war zunächst bloß eine Art mathematischer Hexentrick, und man dachte lange, dass so etwas nicht tatsächlich existiert«, sagt Theodor Hänsch, Professor am Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching und in den 70er Jahren Doktorvater von Wieman. Dank der Forschungen der drei frischgebackenen Nobelpreisträger weiß man heute, dass es diesen fünften Aggregatzustand der Materie (neben fest, flüssig, gasförmig und Plasma) wirklich gibt. Tag seiner Geburt war der 5. Juni 1995, als im Labor von Cornell und Wieman im US-Bundesstaat Colorado ein winziger Tropfen aus 2000 Rubidium-Atomen sich für 15 Sekunden in ein Bose-Einstein-Kondensat verwandelte. Dies geschah bei einer Temperatur von 20 Milliardstel Grad über dem absoluten Nullpunkt (-273,15°C). Bereits vier Monate später zog Ketterle in Cambridge (Massachusetts) nach. Sein Kondensat aus Natrium enthielt mehr Atome und eignete sich daher besser für die Untersuchung des neuen Phänomens. Er erzeugte überdies einen kurzen Strahl von Tropfen, die auf Grund der Schwerkraft nach unten fielen. »Das kann als ein Anfang zu einem "Laserstrahl" mit Materie anstelle von Licht gesehen werden«, schreibt die Schwedische Akademie in ihrer Preisbegründung. Wie Forscher aus Garching soeben gezeigt haben (»Nature« vom 4. Oktober 2001), lässt sich ein solcher Atomlaser bis auf die Größe einer Briefmarke miniaturisieren und so vermutlich für die Konstruktion von Quantencomputern verwenden. Aber auch in Navigationssystemen, Messinstrumenten und Atomuhren dürfte der neue Aggregatzustand zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten finden. Mit Ketterle geht bereits im vierten Jahr in Folge ein wissenschaftlicher Nobelpreis an einen gebürtigen Deutschen, der in den USA arbeitet. Dabei hatten die Universität München und das Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching zunächst alles versucht, um den talentierten jungen Wissenschaftler zu halten. Vergeblich. Ketterle ging 1990 ans Massachusetts Institute of Technology (MIT), wo er derzeit als »Full Professor« tätig ist. Selbst das lukrative Angebot, 1997 eine Direktorenstelle am Max-Planck-Institut für Quantenoptik zu übernehmen, lehnte er ab, vermutlich schon mit Seitenblick auf den Nobelpreis.