nd-aktuell.de / 11.12.2004 / Kultur
Die verlorene Stadt der glücklichen Kinder
Erkundungen in Benposta, der Kinderrepublik im spanischen Galizien Das sozialpädagogische Projekt der Selbstverwaltung ist in Verruf geraten Padre Silva versucht mit allen Mitteln, das Ansehen seiner Schöpfung zu wahren
Antje Krüger
»Nach Benposta soll es gehen?« Mein Kollege bekommt glänzende Augen. »Da war ich 1992. Ich wollte nur einen Tag mal vorbeischauen, aber dann blieb ich eine ganze Woche. Das ist ein ganz ungewöhnlicher Ort, eine Gesellschaft, wie wir sie uns immer wünschen«, erzählt er begeistert.
Wer immer in Benposta nahe der galizischen Stadt Orense war, der schwärmt. Benposta ist vieles in einem: eine Zirkusschule, eine Kinderrepublik, ein einzigartiges sozialpädagogisches Projekt, das sich selbst trägt und von seinen kleinen Bewohnern selbst regiert wird.
Die »Stadt der glücklichen Kinder«, wie sie sich nennt, wurde vor 50 Jahren von dem Geistlichen Jesús Silva Méndez gegründet. Aus der ganzen Welt kommen ihre Bewohner, lernen in Grundschule oder Oberstufe, üben im Zirkus oder helfen in Werkstätten. Jeden Morgen gibt es eine Versammlung aller, bei der die Probleme der Stadt besprochen werden. Sie haben ihr eigenes Parlament und ihre eigene Währung, die Corona. Mehr als 30000 Kinder, viele aus armen Verhältnissen, wurden hier groß und nahmen die Idee mit zurück in ihre Heimatländer. Benpostas gibt es heute auch in Kolumbien, Venezuela, Japan, den USA und Mosambik.
Alle Fäden in einer Hand
Herbstsonnenschein taucht die Hügel rund um Orense in sanftes, friedliches Licht. Der Bus erklimmt einen kleinen Berg. »Nach Benposta soll es gehen?«, fragt etwas abwertend der Fahrer, bevor er den Weg erklärt. Unaufhörlich wirft er skeptische Blicke durch den Rückspiegel. Nach einer Tankstelle kündet ein Metallschild vom Eingang in die »Glückliche Stadt«. Doch zwei uniformierte Posten versperren den Weg. Sie geben ihn erst mit Erlaubnis Padre Silvas frei. »Wir haben gerade ein internes Problem«, entschuldigt sich der Geistliche und heißt uns willkommen. Doch schon muss er weg, der kleine, agile Mann in Jeans und Fotografenweste. Es gibt viel zu organisieren in dieser Republik der Kinder. Und alle Fäden hält er in der Hand. Trotz oder gerade wegen seiner 71 Jahre.
Vor dem kleinen, weißgekalkten Parlamentsgebäude der Stadt hockt Roberto aus Guatemala, die Einfahrt immer im Blick. Kommen Besucher, führt er sie herum. Roberto ist 20 Jahre alt. Padre Silva habe ihm den Posten gegeben, »weil ich so gut erzählen kann«. Ein Lächeln überzieht sein Gesicht.
Er führt in die Kirche und zeigt die Malereien des Padre, der von allen hier nur »El Cura«, der Priester, genannt wird. An der schweren schmiedeeisernen Tür, deren Reliefs das Leben in Benposta zeigen, wirbt ein Plakat für die Nominierung Padre Silvas für den Friedensnobelpreis - als Dank für sein Lebenswerk. Gleich neben der Kirche steht eine kleine Moschee. Das ist heiliger Grundsatz in Benposta: Religion, Herkunft oder Rasse trennen nicht.
Weiter gehts durch die Straße des Kinderkönigs vorbei am riesigen Zirkuszelt, das seine Kuppel wie eine Krone über Benposta trägt. Roberto schwärmt. »Unsere Philosophie wird durch die Zirkuspyramide symbolisiert. Sie ist unser Wahrzeichen. Unten stehen die Starken. Sie stützen die Schwächeren. Die glorreiche Spitze aber ist das Kind. Um diesen Traum zu verwirklichen, hat uns der Cura eingeladen. Seit 50 Jahren kämpft er dafür, ohne dass ihm die Kräfte ausgehen. Denn wir Kinder sind die Könige dieser Welt«, erklärt er.
Doch die Kinderwelt liegt da wie ausgestorben. Hunde streunen herum. Das Rot des Zirkuszelts hat schon leuchtendere Tage gesehen. Dem goldenen Löwen am Eingang fehlt die Nase und an den Zirkuswagen nagt der Rost. Nur vereinzelt schleichen Kinder, den Kopf gesenkt, über das Gelände.
»Roberto, wo sind denn die Kinder?« - »Denen gefällt es nicht mehr. Die sind gegangen.« - »Aber warum denn?« - »Die sind undankbar, sie vergessen, was der Cura ihnen gegeben hat.« Roberto blickt wütend auf vier Jungen, die gerade Richtung Speisesaal ziehen. Wir würden sie gerne selbst fragen, aber da wird der 20-Jährige vehement: »Nein, das geht nicht. Der Cura reißt mir den Kopf ab, wenn er das erfährt. Er entscheidet, wer hier redet und wer nicht.«
Sekunden verstreichen. »Aber ihr habt doch Demokratie?« - »Ja, aber nicht für Journalisten. Hier wird gemacht, was der Cura sagt.« - »Was ist hier los, Roberto?« Das breite, braune Gesicht wird schmal. Roberto zögert, bevor er sagt: »Ich weiß nur, was ich wissen darf.«
Krieg der Erwachsenen
In Benposta scheint Krieg zu herrschen. Mehrere Lehrer haben sich in der Bibliothek verschanzt und streiken. Sie protestieren, weil Padre Silva Benpostas feste Schule in eine Zirkuswanderschule umwandeln ließ. Und sie fordern Mitbestimmung im Rat von Benposta. Sie haben Klage eingereicht wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht. Inzwischen beschäftigen sich Gerichte mit der Kinderrepublik.
Padre Silva sieht darin ein abgekartetes Spiel. »Benposta wird von diesen Leuten boykottiert. Mich mögen die hier nicht, weil ich links bin. Die galizische Regierung ist rechts. Es ist immer das Gleiche«, erklärt er. Sein Freund Benigno nickt. »Ich kam nach Benposta inmitten der Franco-Diktatur. Der Cura hat mich hier versteckt, als sie hinter mir her waren. Der hat immer alles für die Verfolgten gegeben und saß deshalb selbst oft im Gefängnis. In Argentinien hat er den Diktator Videla einen Mörder genannt, in Chile stürmte die Armee das Zirkuszelt und in Deutschland warfen Neonazis Rauchbomben in eine Aufführung. Als ich hörte, dass der Cura Probleme hat, hab ich alles stehen gelassen, um ihm zu helfen«, sagt Benigno.
Wie zwei Armeen stehen sich die Parteien gegenüber. Sie werfen einander das Gleiche vor: Unfähigkeit und Manipulation, den Missbrauch der Kinder als Schild für eigene Interessen und Geldgier. Beide Seiten behaupten, der jeweils andere wolle nur an den wertvollen Grund und Boden von Benposta. Mittlerweile geht in der Stadt nichts mehr. Die Schule hat geschlossen. Die Kinder sind sich selbst überlassen. Ein Zirkuspferd galoppiert wild über das Gelände. Niemanden kümmerts.
Dabei sollten sich in Benposta die Kreise schließen. Die meisten Lehrer sind hier selbst groß geworden, haben Benpostas Philosophie von Kindheit an aufgesogen, nennen die Stadt noch heute ihr eigenes Haus. Padre Silva versucht inzwischen - oder vielleicht schon immer - mit allen Mitteln den guten Ruf zu wahren. Dabei prallen Welten aufeinander. »Hier kommt kein Strich und kein Foto raus, die ich nicht kontrolliert habe«, ist sein Motto für Journalisten. Wer nicht für Benposta ist, der ist dagegen. Von Spionage ist die Rede, von Morddrohungen.
Benposta ist die Vision, die an der Angst ihres Schöpfers vor der Mündigkeit seiner Schöpfung zu Grunde geht. Die Erwachsenen schreien sich an, werden handgreiflich. Und die Kinder? Sie schweigen.
Die verlassenen Könige
Langsam färbt sich der Himmel abendrosa. Nur ein Fleck in Benposta ist nicht umflort von Tristesse: das Schwimmbecken. Sein Blau ist klar und sauber. Am Beckenrand sitzt Rony aus Guatemala. Sein Freund Tirso schiebt ein Skateboard hin und her. Dedier aus Guinea steckt seinen knallroten Kamm im Kraushaar wieder fest. Alle drei sind eigenartig still. Lediglich Suhaib aus Marokko prustet im Wasser. Hier und da fällt ein kurzer Satz, lustlos. Kein Aufschneiden, wie es 13-jährigen Jungen sonst eigen ist, keine Rangeleien. Keiner weiß, wann die Schule wieder los geht. Keiner weiß, was werden soll. Niemand kümmert sich um die Jungs. So manch größerer Freund ist längst aus Benposta abgehauen.
Zehn, fünfzehn Kinder streifen noch durch die Straßen der Stadt. Früher lebten hier 200. Ungefähr 70 soll es noch geben, aber keiner weiß das so genau. Die größeren schauen ein wenig nach dem Rechten. Am Nachmittag hatte Suhaib ein paar Kekse mit Vanillesauce für die anderen zurecht gemacht. Die Selbstständigkeit der Kinder ist in der Tat ungewöhnlich. Trotzdem lasten Langeweile und Ungewissheit seit Monaten auf ihnen. Die Eltern sind weit weg und die Erwachsenen mit sich beschäftigt.
Was die Kinder über ihre Republik sagen sollen, können sie nicht. Es lässt sich nicht vereinbaren mit dem, was zu sehen ist. Was sie selbst sagen wollen, trauen sie sich nicht. Übers Skateboard kann man sprechen, über die Kamera der Fotografin oder das Wasser im Pool. Da tauen sie langsam auf. Rony stellt sich in Pose, schlägt den Kragen seines flammendgelben Hemdes hoch. Aber bei jeder Frage über Benposta wenden sie sich ab, haben sie nichts gehört. Nur Tirso meint leise: »Was soll ich denn dazu sagen?«
Der Abend neigt sich dem Ende entgegen. Am Swimmingpool heißt es Abschied nehmen von den Besucherinnen. Die Gesichter von Rony, Tirso und Dedier verschließen sich wieder. Selbst das blaue Wasser hat mit der untergegangenen Sonne seinen Schein ausgelöscht. Schüchtern umklammern Jungenhände Fotografin und Autorin. Benposta, die Stadt der glücklichen Kinder, liegt kalt und unfroh.
Nachtrag: Der Abend am Swimmingpool war ein glücklicher Zufall. Am folgenden Recherchetag spitzt sich die Situation zu. Die beiden Autorinnen werden der Spionage beschuldigt und müssen Benposta verlassen. Deshalb gibt es auch kein Foto von Padre Silva.
Fotos: Ariadna Arnés
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/64329.die-verlorene-stadt-der-gluecklichen-kinder.html