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  • Politik
  • 20 Jahre Erfolg haben am Centre Pompidou in Paris genagt

In der »Kulturraffinerie« brodelt es stärker denn je

  • Lesedauer: 5 Min.

Von Ralf Klingsieck, Paris

In diesen Tagen werden es 20 Jahre, daß das Pariser Kulturzentrum Georges Pompidou besteht. Sein Erfolg ist international beispiellos, aber der hat auch seinen Preis. Um Verschleißspuren und Rostschäden zu beseitigen, die Gebäudetechnik zu modernisieren und das Haus innen aufgrund der Erfahrungen der vergangenen Jahre umzubauen und umzuorganisieren, wird es von September an bis Ende 1999 zu einem großen Teil geschlossen. Auch wenn es nur für zwei Jahre ist, so wird das Kulturzentrum den Parisern doch fehlen.

Dabei war die farbenfrohe Rohrkonstruktion an der Grenze zwischen dem Hallen- und dem Marais-Viertel heftig umstritten, als das Haus Anfang Februar 1977 eröffnet wurde. »Kulturraffinerie« gehörte dabei noch zu den wohlwollenden Bezeichnungen. Da klang ja sogar noch etwas vom Wunsch des Präsidenten Georges Pompidou nach einem »Schmelztiegel der Künste« an. Er selbst war ein Sammler zeitgenössischer Malerei und Plastik, und das von ihm gewollte Museum für moderne Kunst sollte die verschiedenen Gattungen nebeneinander und im Zusammenspiel präsentieren und auf die Menschen wirken lassen, die ohne

Schwellenangst ein- und ausgehen und sich nach und nach mit zeitgenössischer Kunst »anfreunden« sollten.

Der Bau des italienischen Architekten Renzo Piano und seines englischen Kollegen Richard Rogers war dann jedoch in beinahe schockierender Weise offen: Die gerüstartige Konstruktion, der durch die Rundumverglasung ungehinderte Einblick ins Innere, die der Fassade vorgehängten Rolltreppen, die farbig betonten und nicht kaschierten Leitungen und Rohre für Wasser, Strom, Heizungswärme und Frischluft waren ein Bekenntnis zur Rolle der Technik in unserer Zeit. Auf den Vorwurf, sein multikolorer High-Tech-Bau passe nicht zu dem sich anschließenden jahrundertealten Marais-Viertel, erwiderte Piano, daß sich bedeutende Bauten nie der Umgebung anpassen, sondern umgekehrt, und daß auch die Kathedralen einst ein architektonischer Bruch im mittelalterlichen Stadtbild waren.

Mit seiner Entscheidung für diesen Bau bewies der großbürgerliche und eher konservative Pompidou Mut. Gleichzeitig setzte er damit Maßstäbe für seine Amtsnachfolger, was Paris gut bekommen ist. So ließ Valery Giscard d'Estaing den Orsay-Bahnhof zu einem phantastischen Museum des 19 Jahrhunderts und die Investruine des Groß Schlachthofes La Villette zu einem Museum für Wissenschaft

und Technik umbauen. Francois Mitterrand veranlaßte gleich eine ganze Serie von architektonisch anspruchsvollen Großbauten: die Glaspyramide im Louvre-Innenhof, die Arche de la Defense, die Bastille-Oper, die Cite de la Musique und die erst kürzlich den Benutzern übergebene neue Nationalbibliothek. Inzwischen haben sich selbst einst skeptische Pariser mit der provokanten Röhrenarchitektur des Centre Pompidou versöhnt -wie ihre Urgroßväter seinerzeit mit dem Eiffelturm.

Schon bald wurde das Kulturzentrum sowohl wegen seines Äußeren als auch wegen seines Programms zu einem Anziehungspunkt für die Pariser und zu einer »Pflichtetappe« für Touristen. Neben der permanenten Sammlung des Museums für zeitgenössische Kunst gibt es viel Raum für jeweils eine große und mehrere kleine Ausstellungen, ferner Kinound Vortragssäle, ein Atelier für künstlerische Arbeit mit Kindern sowie eine Kunstbuchhandlung und eine Cafeteria. Eine ganze Etage gehört der öffentlichen Freihandbibliothek mit ihren 400 000 Büchern sowie vielen Tonbändern, Videos und Multimedia-CD-ROM.

Vom Erfolg wurde das Centre Pompidou in den vergangenen 20 Jahren regelrecht überrollt. Bisher zählte man insgesamt 150 Millionen Besucher, also täglich etwa 25 000, wo man doch ur-

sprünglich mit weniger als 5000 pro Tag gerechnet hatte. »Das Beaubourg«, wie es nach einer angrenzenden Straße auch genannt wird, ist die meistbesuchte Sehenswürdigkeit in Paris, noch vor dem Eiffelturm und dem Louvre. Ausstellungen wie »Paris-New York«, »Paris-Moskau«, »Paris-Berlin« oder die Dali-Retrospektive haben Geschichte gemacht. Vor allem die im Centre Pompidou gebotene Vielfalt der Kunstformen, die Einbeziehung von Fotografie und Film, Architektur und Stadtentwicklung, Design und Alltagskultur haben das kulturelle Leben in Paris stark geprägt und auch auf ganz Frankreich sowie das Ausland ausgestrahlt.

Den größten Publikumserfolg verzeichnete jedoch die Bibliothek, die täglich von bis zu 12 000 Lesern förmlich belagert wird. Meist sind es Studenten, denn in Paris fehlt es an ausreichend gro-ßen Universitätsbibliotheken. Während des bevorstehenden Umbaus geht ein Teil der Aktivitäten weiter Einzelne Bereiche des Hauses bleiben jeweils für Ausstellungen und Veranstaltungen zugänglich. Mit anderen Aktivitäten genießt das Centre Pompidou Gastrecht in anderen Museen und Kultureinrichtungen von Paris. Die Bibliothek wird mit ihren Beständen in ein angemietetes Gebäude in der Nachbarschaft ausgelagert. Kunstwerke des

Museums für moderne Kunst werden für Ausstellungen im In-und Ausland ausgeliehen. Das größte Projekt ist eine Exposition im Gugge'nheim-Museum in New York.

Auch an die Touristen wurde gedacht: Die Rolltreppe vor der Fassade, die bis zur fünften Etage hinaufführt und von der man einen herrlichen Blick auf Paris hat, bleibt über die gesamte Umbauzeit hinweg zugänglich. Vollständig »runderneuert« und mit einem aktualisierten Konzept wird das Centre Pompidou am 31. Dezember 1999 - pünktlich zum Eintritt ins neue Jahrtausend - wiedereröffnet. Ein Großteil der Verwaltung muß bis dahin ausziehen und sich in der Nachbarschaft niederlassen. Dadurch und durch Umbauten werden 4000 Quadratmeter Ausstellungsfläche hinzugewonnen. Das Museum für moderne Kunst mit seiner international angesehenen Sammlung von 40 000 Werken, von denen bisher jeweils nur 1000 gezeigt werden konnten, wird innerhalb des Hauses an einen günstigeren Standort umziehen und bekommt auch mehr Fläche. Die Bibliothek, die zu 65 Prozent von Lesern unter 35 Jahren besucht wird, erhält weitere Computer und wird so umfassender die neuen Medien zugänglich machen.

Hier wie in den anderen Abteilungen des Hauses soll alles darauf ausgerichtet werden, künftig stärker als bisher neueste Entwicklungen in Kunst und Kultur zu verfolgen, aufzugreifen und in ihrem Zusammenspiel zu reflektieren. Renzo Piano, der jetzt auch mit dem Umbau beauftragte Schöpfer des Zentrums, faßte die Herausforderung der Aufgabe zusammen: »Es soll mehr Ordnung geschaffen werden, ohne das schöpferische Chaos zu beseitigen, das nicht zuletzt den Erfolg des Centre Pompidou ausgemacht hat.«

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