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  • Politik
  • nd-serie: Was kommt von links? Heute-. Tony Benn

Die Flammen des Zorns und der Hoffnung

T/l

  • Lesedauer: 7 Min.

Vfas kommt von links?« - In dieser Serie setzen sich prominente Linke aus aller Welt kritisch mit dem Scheitern des Realsozialismus auseinander und denken - sich dem Zeitgeist widersetzend - über gesellschaftliche Alternativen nach.

Der 1925 geborene britische Politiker Tony Benn - heute als prominenter Linker zugleich Außenseiter in der Labour Party - ist »vorbelastet«: Sein Vater und beide Großväter waren Parlamentsabgeordnete. Benn diente im zweiten Weltkrieg in der Royal Air Force. Nach seinem Studium der Politikund Wirtschaftswissenschaften in Oxford wurde er bereits 1950 Labour-Abgeordneter. Ab 1959 war er mehr als 30 Jahre lang Mitglied des Parteivorstandes, 1971/72 Parteivorsitzender. In den Labour-Regierungen 1964-70 und 1974-79 war er u. a. Energie- und Industrieminister. Nach dem Tod des Vaters erbte er dessen Adelstitel und setzte eine Gesetzesänderung durch, um ihn ablehnen zu können.

Der christliche Sozialist und Vater von vier Kindern ist einer der wenigen ehemaligen Minister, die durch Regierungsverantwortung weiter nach links rückten. Er veröffentlichte mehrere Bücher über Sozialismus und Demokratie und schreibt seit 57 Jahren ein Tagebuch, das in Buch- und Kassettenform veröffentlicht wird. Demonstrationen ““ gegen Autobahnbau, Kundgebungen zur Unterstützung von Streiks, Konferenzen der Linken - Tony Benn ist immer dabei.

Foto: de a Motte

für die Medien. Der Schriftsteller Kingsley Amis nannte Sie 1974 »den gefährlichsten Mann in Britannien«.

Der Druck durch die Medien und den Sicherheitsdienst war scheußlich. Mein Telefon wurde abgehört, mein Müll wurde jeden morgen mit einem Rover Pkw abgeholt, offensichtlich vom Sicherheitsdienst. Presseleute quartierten sich im Garten ein und klingelten alle 10 Minuten, versuchten meine Kinder zu provozieren. Furchtbare Belästigungen, die sehr unangenehm waren. Die Medien verteufelten mich wegen meiner Überzeugung. Und ich mußte mir klar machen, daß sie eine Person zu zerstören suchten, die sie selbst kreiert hatten, das war aber nicht wirklich ich. Doch wenn man dies nur vermeiden kann, indem man nicht mehr sagt, was man denkt, dann braucht man als Linker nicht Politiker zu sein.

? Dieser Tage sprachen Sie bei einer Demonstration gegen den Bau einer Autobahn. Da ist ein Zusammenhang mit einer Gesetzvorlage, die Sie vor 10 Jahren einbrachten, worin Sie fordern, daß der Grund und Boden zurück in Gemeineigentum gebracht werden soll.

Stimmt. Mir wurde klar, daß die Einhegungen im Mittelalter die erste Privatisierung in der britischen Geschichte waren: Gemeineigentum wurde an reiche Landbesitzer gegeben. Es gab 10 000 Einhegungsgesetze. Wenn jedoch das Land wieder der Gemeinde gehörte, würden die Einnahmen ausreichen, Gemeindesteuern abzuschaffen und trotzdem alle Ausgaben der Gemeinde zu finanzieren. Die Diggers in der englischen Revolution im 17 Jahrhundert vertraten diese Forderung. Dies ist ein Problem aus dem Feudalismus, aber es ist sehr lebendig. Die Bewegung gegen den Straßenbau geht nicht nur gegen die Straße, sondern auch darum, daß der Boden dem Volk gehört. Mein Gesetzentwurf ist ein weiterer kleiner Baum, der sicher noch wachsen wird.

? Sie sind leidenschaftlicher Gegner eines »Europas der Banker«.

Ich habe als Alternative einen Gesetzentwurf entwickelt, »The Commonwealth of Europe« (die Gemeinschaft von Europa). Er schließt alle Länder von Europa ein, über 50, und schlägt eine Art Mini-UNO vor- eine Generalversammlung, einen Ministerrat, einen Gerichtshof, eine Menschenrechtskommission. Der Entwurf schlägt eine Annäherung der Mitgliedsländer ohne Zeitdruck vor. Er wurde u. a. ins Deutsche übersetzt und ist jetzt im Internet. Auch dies ist ein kleiner Baum. Ich denke, daß das Maastricht-Konzept zusammenbrechen wird, denn ich glaube nicht, daß die Europäer es zulassen werden, von Bankern regiert zu werden, auf die sie keinen Einfluß haben.

? Sie empfehlen als Prüfstein für Demokratie fünf Fragen.

Wenn du einen mächtigen Mann triffst, stelle ihm fünf Fragen: Welche Macht hast du? Wie hast du sie bekommen? In wessen Interesse übst du sie aus? Wem bist du rechenschaftspflichtig? Und wie können wir dich loswerden? Wobei die letzte Frage entscheidend für die Demokratie ist. Im Kapitalismus wird die Demokratie erwürgt, man kann das System nicht mit Hilfe der Wahlurne in Frage stellen. Deshalb passieren zwei Dinge: die Leute wählen nicht (Clinton wurde von nur gut 20 Prozent gewählt) oder sie gehen auf die Straße. Und deshalb denke ich, daß wir eine Zeit von Aufruhr und Protesten erleben werden, die in den verschiedensten Ländern mit zunehmender Härte unterdrückt werden. Und in dieser Situation ist es, wenn es brenzlig wird, wichtig zu zeigen, auf wessen Seite man ist.

? Sie sind seit 1950 Parlamentsabgeordneter. Trauen Sie dem Parlamentarismus nach all den Jahren?

Ich habe nie geglaubt, daß Sozialismus durch das Parlament herbeigeführt werden kann. Aber wenn das Volk etwas erreichen will, dann muß das Parlament als Instrument verfügbar sein, was es im

Moment nicht ist. Ich benutze es als Rednerbühne, ich bin hauptamtlicher Funktionär der Arbeiterbewegung, bezahlt von der Regierung. Ich bin nicht gegen den parlamentarischen Prozeß, er ist ein Mechanismus, der gut geölt werden muß, damit die Menschen ihn nutzen können.

? Es gibt Meinungen, die halten das britische- Mehrheitswahlrecht für undemokratisch, da viele Stimmen ignoriert und kleine Parteien nie gewählt werden können.

Das Mehrheitswahlrecht hat aber andere, wichtige Vorteile. Ich bin Abgeordneter von Chesterfield. Jeden Sonnabend mache ich dort Sprechstunde, und die Leute kommen mit ihren Problemen zu mir Jeder dort ist mein Arbeitgeber, der Busfahrer, die Krankenschwester, die Lehrerin, für sie arbeite ich. In einem Listensystem würde Labour-Führer Tony Blair entscheiden, wer auf die Liste gesetzt wird. Ob man ins Parlament kommt, ist dann Resultat von Gönnerschaft und nicht von Wahl. Ich glaube zwar, daß Regierungen, nach dem Verhältniswahlrecht gewählt, eine gewisse Berechtigung haben, aber ich gebe ungern einem Parteichef die Macht der Auswahl der Kandidaten. Und ich meine, daß die Bindung an den Wahlkreis wichtig ist.

? Sie sind emsiger Tagebuchschreiber, sechs Bände sind bereits veröffentlicht.

Ich fing an, als ich 15 war und schreibe jeden Tag. Ich mache das aus einem protestantischen Ethos heraus: am Ende seines Lebens muß man Rechenschaft ablegen können. Es ist ein moralischer Imperativ

? Es ist nicht alltäglich für einen Politiker, Tagebuch zu schreiben.

Als Politiker muß man nachdenken. Und wenn man am Ende des Tages reflektiert, was man gemacht hat, geht man die Erfahrungen des Tages quasi ein zweites Mal durch, ohne den Druck der Situation. Und dann, wenn man die Aufzeichnungen liest, geht man die Erfahrung ein drittes Mal durch. Ein Tagebuch ist nicht dasselbe wie Memoiren schreiben, es ist eine Beichte, du mußt auch deine Fehler zugeben, denn das erst macht es glaubhaft.

? Dachten Sie beim Schreiben an Veröffentlichung?

Ursprünglich nicht. Aber ich habe gelernt, daß es eine Form der politischen Debatte ist. Die Medien sagen dir, was du heute denken sollst, und in 25 Jahren werden dir die Historiker sagen, was du über die Vergangenheit zu denken hast. Den Zwischenraum kann das Tagebuch nutzen. Es bietet eine Chance, jüngste Erfahrung zu reflektieren und greift dadurch eine ungedeckte Seite des Establishments an.

? Ihr gegenwärtiger Band heißt »Endlichfrei«. Warum dieser Titel?

Weil ich jetzt frei bin. Das Alter mag schlechte Gesundheit und Erschöpfung bringen, aber es bringt auch Freiheit, da man keine Ambitionen und keine Schranken mehr hat. Und diese Freiheit zu nutzen, um Menschen zu helfen, ist sehr aufregend.

? Was ist für Sie jetzt wichtig: Worin sehen Sie Ihre Aufgabe?

In meinem Alter besteht die einzig sinnvolle Aufgabe in der Politik darin, Lehrer zu sein. Wenn man älter wird, sieht man Geschichte in einem anderen Licht. Ich kann mir heute die Diskussionen jeder beliebigen Periode in der Geschichte vorstellen, sei es in der französischen Revolution oder im Römischen Reich, ich verstehe, worum es ging - und das gibt Selbstvertrauen. Kein Problem wird je von oben gelöst, alle Bewegungen fangen von unten an: Anti-Apartheid, Frauenwahlrecht, Gewerkschaften, Sozialismus - sie haben alle von unten angefangen. Und die letzten, die mitkriegen, worum's geht, sind die Leute an der Spitze. Wenn das Parlament einer Sache zustimmt, weiß man, daß das Volk das schon vor 10 Jahren wollte.

? Woher nehmen Sie Ihre Hoffnung?

Ich meine schon, daß die Geschichte eine Geschichte von Kämpfen ist, Klassenkämpfen wenn man so will, des Kampfes um Demokratie. Was mir Hoffnunggibt, ist die Tatsache, daß es in jeder historischen Periode zwei Flammen gegeben hat. die Flamme des Zorns gegen die Ungerechtigkeit und die Flamme der Hoffnung, daß man eine bessere Welt bauen kann. Und diese beiden Flammen können nicht erstickt werden.

Interview: Brunhild de la Motte

Bisher erschienen:

Alfred Hrdlicka (24. 12. 1996), Adam

Schaff (16. 1 1997)

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