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Soll das Schwert auf ewig walten?

Jerusalem - Wunschbild und Wirklichkeit

  • Julius Waldschmidt
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Besucher von Jerusalem denkt an ein Lied: »Seit hundert Generationen träumte ich von dir, oh Jerusalem«. Er findet »eine zwar exotische, aber ziemlich heruntergekommene hässliche Stadt« vor und durchwandert, mit Erinnerungen im Gepäck, Straßen und Gassen, trifft Freunde, sieht Altes und Neues, sicher auch das Grab der biblischen Rachel am Stadtrand. Wenn er im einst attraktivsten, teueren Stadtviertel Talbieh weilt (das »Nikoforia« hieß), begegnen ihm Namen von berühmten Künstlern und Architekten, von Archäologen und Politikern, sogar von prominenten Asylanten wie Kaiser Haile Selassie von Äthiopien oder König Peter von Jugoslawien. »Die Jaffa Road, die Hauptstraße, war eine Mischung aus Ostpolen und tiefem Anatolien«, erinnert sich der Ankömmling von 1938. Den Häschern des Hakenkreuz-Reiches glücklich entkommen, bestaunte der 16-jährige deutsche Jude die Stadt, die König David vor 3000 Jahren erobert und zur Hauptstadt gemacht hatte. Am Osthang der Hochebene Juda, fast 800 Meter über dem Meeresspiegel gelegen, erlebte die Metropole, in der drei monolithische Weltreligionen ihre heiligen Stätten haben, mittelöstliche, römische, byzantinische und europäische Herrscher. Ferner die arabische Reiterarmee des Kalifen Omar, dann 1099 eine Menschenschlächterei sondergleichen durch die ersten Kreuzfahrer (denen man »Gott will es« predigte), schließlich das Osmanische Reich und moderne Kolonialherrschaft. Als Walter Laqueur nach Jerusalem kam, ging in seinem Geburtsland die »Kristallnacht« zu Ende. Erst später liest er die Bilanz des Chefs der deutschen Sicherheitspolizei Reinhard Heydrich über den 9. November 1938 in Deutschland: Man habe 845 Warenhäuser und Geschäfte, 267 Synagogen in Brand gesetzt oder vollständig demoliert, 72 Menschen getötet oder schwer verletzt. Jerusalem wurde Zufluchtsort für viele deutsche Juden. Nach britischen Behördenangaben zählte die Stadt 1947, dem Jahr der Verkündung des Teilungsplanes der UNO für Palästina, 157000 Einwohner, darunter 97000 Juden. Heute wohnen 567000 Menschen auf einem Territorium von 123 Quadratkilometern (einem Siebtel der Fläche von Berlin). Juden, Christen und Muslime leben nebeneinander - in distanzierter Achtung vor einander. Koexistenz ist aktuelle Kampfaufgabe. Zumal inzwischen kaum überwindbare Mauern im Bau sind, die eine stabile Lösung des nun schon sechs Jahrzehnte währenden jüdisch-palästinensischen Konfliktes verbarrikadieren. 1948 hätten, so meint Laqueur, die Palästinenser ihren Staat bekommen können, Jerusalem sollte als corpus separandum (gesondert zu behandelndes Gebiet) unter internationale Aufsicht gestellt werden. Damals seien die Araber nicht bereit gewesen, eine binationale Lösung zuzulassen: die Bildung von zwei Staaten, die jeweils in einem bestimmten Teil von Jerusalem ihre Hauptstadt errichten. Nicht grundlos unterscheidet der Buchautor zwischen einem mythischen Zustand Zion und der Realität Jerusalem. Langsam wächst das Verständnis für die entstandenen Realitäten, vor allem die Bereitschaft zur Versöhnung. Notwendig ist zuvörderst ehrliche Benennung der Ursachen für die Tragödien auf dem Boden des Heiligen Landes. Shimon Peres wünschte einen »Neuen Nahen Osten«. Aber bislang hat sein Land das Angebot der arabischen Gipfelkonferenz von Beirut (März 2002) kaum konstruktiv beantwortet, volle diplomatische und ökonomische Beziehungen zum jüdischen Staat aufzunehmen, wenn dieser die Bildung der Republik Palästina unterstütze. Der Zeithistoriker Laqueur, übrigens auch exzellenter Kenner der palästinensischen Nomenklatura, ist nicht sehr optimistisch - in Anbetracht des politischen Fanatismus auf beiden Seiten. Nicht zufällig zitiert er aus der Bibel (Altes Testament, 2. Buch Samuel) die bohrende Mahnung des Heerführers Abner an den Kontrahenten Joab: »Soll denn das Schwert unaufhörlich um sich fressen? Weißt du nicht, dass das zu einem bitteren Ende führen wird?« Jerusalem ist auch eine weitere Neuerscheinung gewidmet. Ulrich Manz fragt Avi Primor, ehemals israelischer Botschafter in Deutschland: »Wo gibt es noch einen Staat, der in seiner gesamten bisherigen Geschichte... nur den Kriegszustand kennen gelernt hat und darüber hinaus nicht weiß, wie es sein kann, im Zustand des Friedens zu leben?« Auch hier wird versucht, Antwort auf brennende Fragen zu geben. Fragen, die nicht nur Jerusalem tangieren, sondern auch das Verhältnis zwischen Orient und Okzident. Beide Publikationen machen die komplizierte, nach einer Lösung schreiende Situation im Nahen Osten transparenter. Walter Laqueur: Jüdisches Trauma und israelische Wirklichkeit. Propyläen Verlag, Berlin 2004. 400S., geb., 24 EUR. Ulrich Manz: Das Jerusalem Virus. Philo Verlag, Berlin 2004. 218S., geb., 24 EUR.
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