Liebe auf den ersten Blick

Hartwig Schultz: Die Geschwister Brentano

Sie war zwölf oder dreizehn, als der »fremde Mann« erschien »mit seiner blendenden Stirne« und dem schwarzen, dichten, weichen Haar. Er gefiel ihr außerordentlich. Sie warf rasch ihre alte Puppe unter den Tisch, er setzte sich auf einen Stuhl, nahm sie in die Arme und fragte: »Weißt du, wer ich bin?« Sie hatte keine Ahnung. Er war Clemens, ihr Bruder, sieben Jahre älter als sie, ein stattlicher junger Mann, den sie jetzt zum ersten Mal sah. In diesen Augenblicken begann eine Liebesgeschichte der besonderen Art, schwärmerisch und hochgestimmt, geprägt von großen Gefühlen und großer Nähe, aber auch von Eifersucht und distanzierter Kühle. Hartwig Schultz hat das Auf und Ab dieser außergewöhnlichen Beziehung in einer Doppelbiografie beschrieben, die beinahe alles hat, was sonst nur Romane bieten: den romantischen Überschwang, die Schwüre und bebenden Sätze, die blitzenden Augen und Tränen, Enttäuschungen, Hohn, Entfremdung und den versöhnlichen Ausklang, wenn der schwierige Clemens nicht mehr lebt. Schultz, Leiter der Brentano-Arbeitsstelle im Freien Deutschen Hochstift, ist der beste Mann für diesen Fall. Er ist Mitherausgeber der großen Brentano-Ausgabe, er hat uns in einer fantastischen (und wunderschönen) Edition die Freundschaftsbriefe zugänglich gemacht, die Clemens und Achim von Arnim wechselten, ihm verdanken wir eine vorzügliche Brentano-Biografie und ein Buch, das die ganze Frankfurter Familie im Blick hat. Auch diesmal hat er tief gegraben und Zeugnisse ans Licht befördert, die niemand kannte. Die Briefe, die die Geschwister sich schrieben, lesen sich wie Liebesbriefe. »Sieh ich hab dich so lieb«, gestand die junge Bettine, und auch später wird sie nicht aufhören, um den Bruder zu werben, ihn anzuflehen, um ihn zu kämpfen. Selten genug sind sie an einem Ort. Als er 1807 die 16-jährige Auguste Bußmann heiratete, wurde sie krank. Die Ehe erstickte bald in Streitigkeiten und fürchterlichen, mitunter handgreiflichen Auseinandersetzungen. Die arme Auguste konnte auf Solidarität nicht hoffen. Bettine hielt zum Bruder, auch wo der sich ins Unrecht setzte. Die Spannungen begannen, als Clemens sein Heil im Katholizismus suchte und Positionen bezog, die sie, die immer selbstständiger, immer selbstbewusster wurde, nicht akzeptieren konnte. Am Schluss aber triumphierte die Harmonie. 1844, zwei Jahre nach dem Tod des Bruders, setzte ihm Bettine ein schönes, eigenwilliges Denkmal. In ihrem Buch »Clemens Brentano's Frühlingskranz« versammelte sie die Briefe, die sie sich in ihrer Jugend schickten, Dokumente der Geschwisterliebe und exemplarisches Zeugnis romantischen Fühlens und Denkens. Hartwig Schultz, souverän wie immer, ist dieser Geschichte bis in die ganz feinen Verästelungen gefolgt. Sein Buch überzeugt durch die Fülle des Materials, das er hier ausbreitet, die Behutsamkeit, mit der er urteilt, und die Leichtigkeit, mit de...

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