»Wo ist das Meer?«

»Lyrik nervt!« Drei Bände beweisen das Gegenteil

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.
Auf den einen Band ist ein rotes Kreuz gedruckt. Achtung, Notarztwagen! Vielleicht reagieren Buchhändler ja auf Sondersignal. Viel Rot auch auf den anderen Bänden. Sie rufen geradezu: Schaut mich an! Man merkt: Lektoren und Gestalter haben diesen Büchern besonders viel Liebe mit auf den Weg gegeben. Und haben doch insgeheim die Achseln gezuckt: Wer weiß, obs hilft. Bei Lyrik kann man nun mal keine hohen Verkaufszahlen erwarten. Und in diesem Fall genügts nicht mal, dass ein Vater oder eine Oma selbst gern Gedichte liest, er / sie muss auch noch mutig genug sein, der Tochter oder dem Enkel so einen Band unter den Weihnachtsbaum zu legen Da hat Andreas Thalmayr sein Buch (mit dem roten Kreuz) gleich »Lyrik nervt!« genannt. Wenn seine jungen Leser sagen »Stimmt«, so hofft er, hätte er schon mal eine gemeinsame Basis mit ihnen gefunden. Zunächst also Frust ablassen, zusammen über Deutschlehrer lästern und vorführen, wie »reichlich ätzend« sich manche Literaturwissenschaftler über Gedichte äußern. Ob Andreas Thalmayr nicht selbst zu dieser Zunft gehört? Nein, hier seis enthüllt, er ist ein Dichter, und zwar ein ziemlich berühmter: Hans Magnus Enzensberger. Stellt sich quasi inkognito mit auf den Schulhof, und auch die Meister, die er zitiert, werden nur im Anhang mit Namen genannt. Höchst gewitzt geht er vor, um Leser davon abzuhalten, das Buch aus der Hand zu legen. Hier eine Behauptung, die verblüfft, da eine Frage, die den Ehrgeiz anstachelt, ein Witz, der vergessen macht, dass einem etwas beigebracht werden soll. Mancher sagt doch, die Trauben seien sauer, bloß weil sie ihm zu hoch hängen. Hier werden sie sozusagen gepflückt und einem vor die Nase gelegt. Jambus, Trochäus, Daktylus, Anapäst - muss man das wirklich lernen? »Also, wenn ihr mich fragt«, meint Thalmayr, »aber mich fragt ja keiner - , ich würde sagen: Das muß nicht sein. Es reicht, wenn ihr eure Fingerspitzen nehmt und ein bißchen auf die Tischplatte trommelt...« Versfüße in der Tanzstunde, ganz von allein folgt der Reim. Was ein Haiku ist oder eine Ballade, ein Sonett oder eine Ghasele und warum die Dichter auf den freien Vers gekommen sind und wieso Wassermelonen mit grünen Buddhas gleichgesetzt werden dürfen, das wird überaus kurzweilig erklärt. Bis zu der Frage: »Was versteht man eigentlich darunter, daß man ein Gedicht versteht (oder nicht versteht)?« Und wieso lesen verschiedene Leute Unterschiedliches aus einem Text heraus? - Vielleicht auch eine Lektüre für Deutschlehrer und überhaupt für alle, die schon immer wissen wollten, wie Lyrik »funktioniert«, aber nicht zu fragen wagten. Ebenfalls von einem berühmten Autor stammt »Schiller für Kinder«: eine von unübersehbar vielen Publikationen im »Schiller-Jahr«. Ein Büchlein, das sich absichtsvoll heiter und bescheiden gibt. Bloß kein Bronzedenkmal, sagte sich Peter Härtling, der seine Auswahl mit einem Gedicht des siebenjährigen Friedrich beginnt. Natürlich fehlt auch »Die Bürgschaft« nicht, »Das Lied von der Glocke«, »Der Taucher« und »Der Handschuh«. Wie viele Schiller-Zitate zu Sprichwörtern geworden sind, das kann man den heiter-ironischen Bildern von Hans Traxler entnehmen. Aber es wird auch Punsch getrunken und die »weibliche Waschdeputation« im Körnerschen Hause beklagt: »Die Wäsche klatscht vor meiner Tür,/ es scharrt die Küchenzofe -/und mich - mich ruft das Flügeltier/nach König Philipps Hofe.« »Ist euch das hübsche Lied bekannt/ Von dem fidelen Elefant,/der plötzlich durch das Fenster guckte/ Und einen Blumentopf verschluckte?« So zärtlich ist nur - Ringelnatz! Er bringt dich zum Lachen, wenn du müde bist, macht dir den Kopf frei, so dass du unwillkürlich tief durchatmest und dir ein Staunen kommt. Worauf dein Blick jetzt fällt, das siehst du wie zum ersten Mal. Bei ihm können sich auf dem Meeresgrund Briefwaage und Walfisch treffen, Stachelschwein und Tintenfisch dürfen sich vermischen, ein »männlicher Briefmark« liebt vergebens, ein »Stäubchen« lacht, und »neben dem Klosett« ein Meerschweinchen »Sah mich bange an, / Sah mich bange an,/ Sann wohl hin und sann her,/ Wagte sich/Dann heran/ Und fragte mich: "Wo ist das Meer?"« Ein Buch zum Verschenken - wie die berühmte Ofenkachel. Auch wenn dieses Ringelnatz-Gedicht fehlt, man denkt es sich ja mit. Denn irgendwie hat er den ganzen Band inspiriert, bis zu den Kapitelüberschriften »Aufbruch, Auf hoher See, Matrosenliebe, Landgang, Seemannslieder, Ankommen«, er ist ja lange Seemann gewesen. Und außerdem ist ja noch viel Köstliches von anderen Autoren enthalten. Der Älteste ist Heinrich Heine, die jüngste ist Salah Naoura. »Gedichte für Landratten, Seemänner, Kinder und andere Erwachsene«, behauptet der Untertitel listig. Also nicht nur für 8-Jährige, sondern für alle? Wohl wahr! Ein schön gestalteter Band. Und wer hat ihn zusammengestellt? Die beiden haben ihre Namen nicht genannt, doch ich will es verraten: Christine Paxmann und Dorothea Cerpnjak. Jemandem möchte man doch dankbar sein. Andreas Thalmayr: Lyrik nervt! Erste Hilfe für gestresste Leser. Carl Hanser Verlag. 119 S., geb., 12,90 EUR. Peter Härtling (Hg.): und mich - mich ruft das Flügeltier. Schiller für Kinder. Illustrationen Hans Traxler. Insel Verlag. 92 S., geb., 9,95 EUR. Joachim Ringelnatz & Co.: 12 Tonnen wiegt die Hochseekuh. Gedichte für Landratten, Seemänner, Kinder und andere Erwachsene. Ilustrationen von Katja Bandlow. Altberliner Verlag. 142 S., geb. 11,90 EUR. Gleichnamiges Hörbuch: Sprecher Martin Baltscheit, 2 CDs, 12,90 EUR.
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