China zwischen Boom und Borke

Die Ausstellung »Die Chinesen« in Wolfsburg - junge chinesische Fotografen im Stadium der Selbstvergewisserung

Die chinesische Kunstszene ist seit gut einer Dekade im Blick des zeitgenössischen westlichen Kunstmarkts. Das ist einerseits der Neugierde der internationalen Kunstmittler und der ewigen Gier des Marktes, sich Neues einzuverleiben, geschuldet, anderseits aber auch der Westorientierung chinesischer Künstler. Der mit der sukzessiven Öffnung der Gesellschaft einhergehende Technologieschub hat vor allem die technischeren Medien - Fotografie, Video- und Cyberkunst - zu den bevorzugten Ausdrucksmitteln der jüngeren Generationen werden lassen. Das Kunstmuseum Wolfsburg stellt in »Die Chinesen« nun konzentriert 18 Positionen jüngerer Künstler sowie die Klassiker der chinesischen Reportagefotografie, Eva Siao, Hou Bo und Xu Xiaobing, vor. Die von Annelie Lötgens und Karen Smith kuratierte Ausstellung hat sich dabei thematisch und ästhetisch enge Grenzen gesetzt - was durchaus ein Vorteil ist. Chinesische Cyberkunst - oft Mutationen bekannter Computerspiele - wird konsequent ignoriert. Nur wenige Videopositionen finden Eingang. Und auch die Aktions-Fotografie, die Anfang der 90er Jahre wegen ihrer politischen Brisanz und ästhetischen Vitalität für Aufsehen sorgte, wird ausgespart.
Zwei Tendenzen lassen sich aus der Präsentation herauslesen: Zum einen hat die Kuratorinnen die der Reportage angelehnte Auseinandersetzung mit der sich beständig ändernden Umwelt interessiert. Einblicke in das gegenwärtige China geben etwa Yang Yongs auf halbe Wände gezogene Fotografien junger Mädchen in Shenzhen. Die Mädchen haben sich aufwendig zurecht gemacht. Sie haben die wichtigsten Accessoires moderner Urbaniten bei sich. Doch in ihren Gesichtern wie in der sorgsam arrangierten Umgebung herrscht überwältigende Leere. »Grausames Tagebuch der Jugend« nennt der Fotograf seine Serie. Liu Zheng hat in seiner Tätigkeit als Reportagefotograf ganz China in den Blick genommen. Auf seinen quadratischen Schwarz-Weiß-Abzügen befinden sich Kampfsport betreibende Mönche, feiernde Neureiche, einfache Arbeiterinnen, in Uniformen steckende geistig Behinderte, ländliche Stripperinnen und Strafgefangene. Wirken Lius Momentaufnahmen geradezu anachronistisch - wegen der s/w-Technik, des Formats, der Anordnung -, so erhalten sie in den Farbporträts gewöhnlicher Zeitgenossen durch Zhuang Hui ihr modernes Ebenbild. Grell, fast künstlich schreien die Farben. Sind Lius Modelle bei ihrer Tätigkeit beobachtet, so scheinen sie sich für Zhuang in Positur gestellt zu haben. Sie sind Individuen, Solitäre, oft abgekoppelt von ihrer Arbeits- und Erlebniswelt.
Der zweite - und spannendere - Grundakkord der Ausstellung besteht im Verweben von Tradition und Zeitgeschehen, dem sich das Gros der Künstler widmet. Lui Zheng, der bereits mit seiner s/w-Reportage-Serie diachronisch vorgegangen ist, re-inszeniert in gewaltigen Bildtafeln die Geschichten der mythischen »Vier Schönheiten«. Es handelt sich um Kurtisanen, die in die Machtkämpfe verfeindeter Reiche hineingezogen wurden. Sie werden jeweils in dem Moment porträtiert, in dem der Tod ihre Männer oder ihre Feinde ereilt bzw. sie selbst Todesgefahren ausgesetzt sind. Sexuelle Lust und Gewalttätigkeit, Liebe und Tod, Eros und Thanatos verschmelzen in diesen opulenten Bildwerken. Obgleich die Gewänder und sparsam gesetzte Ausstattungsstücke historisch sind, atmen die Werke überzeitliche Kraft. Die Gewalt von Umwälzungen, die darin auch verwobene Lust sowie das zurückhaltende Geschehen-Lassen treten hervor.
Ganz andere Zeiträume umreißt Hai Bo. Nur 20 bis 30 Jahre, manchmal sogar nur wenige Monate, liegen zwischen Aufnahmen, die er gefunden hat, und seinen fotografischen Rekonstruktionen. So wiederholte er 1999 das Abschluss- Foto einer Mädchenschulklasse aus dem Jahre 1973. Die längst erwachsenen Frauen begaben sich in exakt die gleiche Position. Aus den übereinander gehängten Fotos ist der Lauf der Jahre zu erkennen. Der Betrachter ist versucht, chinesische Geschichte, all die bekannten und erahnten Brüche, Traumata, Hoffnungen, Auf- und Abschwünge in den Gesichtszügen, den neuen Kleidern und Frisuren der 16 Frauen dingfest zu machen. Der ewige Verlauf von Zeit, jenseits gesellschaftlicher Veränderungen, wird in Hais Vierfach-Porträt einer Landschaft, jeweils aufgenommen im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter, sichtbar.
Wang Qingsong hingegen inszeniert Gedächtnisräume. Mit Lehm beschmierte, mit Uniformen und Waffen versehene voranschreitende Schauspieler gruppiert er zu einem martialischen Kriegerdenkmal vergangener Provinienz (»Past«) und fotografiert sie so. Mit Silber überzogen tragen die Schauspieler dann eine Fahne und diverse Arbeitsgeräte (»Present«). Auch sie bilden einen Zug. Vergoldet, mit Musikinstrumenten in der Hand und am Ort verharrend heißt die Gruppe jetzt »Future«.
Alte kollektivistische Zeiten ruft ebenfalls Zhuang Hui herbei, der vorher schon als Chronist der Gegenwart auf sich aufmerksam machte. Zhuang kreiert meterlange Gruppenfotos von Arbeitskollektiven und Kindergartengruppen. Der einzelne wird, mehr noch als bei konventionellen Gruppenporträts, zu einem Bildpunkt verengt, ein ganzes Genre monumental überboten und in Frage gestellt.
»Die Chinesen« zeigt eine Generation von Künstlern, die aufmerksam ihre Zeit und ihre Gesellschaft beobachtet, dabei zu modernen Mitteln greift, sich aber gleichzeitig dieser neuen Zeit durch einen Rückblick in die Vergangenheit zu vergewissern sucht. Sie erreicht dabei eine ungewöhnliche Tiefenschärfe.

Kunstmuseum Wolfsburg, Porschestr. 53, 38440 Wolfsburg: Die Chinesen. Fotografie und Video aus China. Bis 9.1. 2005, Di 11-20, Mi-So 11-18Uhr, Te...

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