Gibbons im Schnee

Von Ingolf Bossenz

Es waren die Werke des großen chinesischen Poeten Li Po (701-762), die uns in der Vergangenheit die langen Winterabende verkürzten. Besonders sein Gedicht über Gibbons in der Provinz Anhui schien wie geschaffen, uns vorweihnachtlicher Heimeligkeit hinzugeben: »Die Pracht der Berge erschaudert unter dem angehäuften Schnee, / Wie Schatten hängen die Gibbons von den kalten Ästen.« Gibbons statt Weihnachtskugeln. So hätte es auch dieses Jahr sein können. Doch eine Veröffentlichung im US-Magazin »Proceedings of the National Academy of Sciences« machte uns misstrauisch. Ein internationales Forscherteam fand nämlich heraus, dass die Chinesen bereits vor 9000 (!) Jahren alkoholische Getränke hergestellt haben. Damit könnten sich die Bewohner des Reichs der Mitte schon früher mit Alkohol versorgt haben als die Zecher im Mittleren Osten, die bislang als einsame Weltmeister im Bechern galten. Natürlich war uns bekannt, dass von den 1045 Gedichten, die Li Po zu Papier (ja, das hatten die Chinesen schon) gebracht hat, über 250 von den Freuden des Weins handeln. Aber angesichts einer solch langen Tradition als Trinkervolk bedürfen seine Zeilen wohl doch einer behutsamen interpretatorischen Korrektur. Immerhin gilt sein Gibbon-Gedicht als Beleg dafür, dass diese heute nur noch in tropischen und subtropischen Gebieten heimischen Affen einst deutlich kühlere Zonen bewohnten. Waren es wirklich Gibbons, die da »von den kalten Ästen« hingen? Erinnert dieses Zeugnis sino-literarischer Hochkultur nicht verdächtig an den prolligen Spruch »Einen Affen haben«? Und erscheint der als besonders romantisch gepriesene Tod des Dichters angesichts der neuesten Forschungsergebnisse nicht in einem völlig anderen Licht? Schließlich ertrank Li Po bei dem Versuch, die Spiegelung des Mondes in einem Teich zu küs...

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