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  • Politik
  • 100. Todestag von Johannes Brahms

Korrektur eines Klischees

  • Günter Görtz
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Herbe, Kühle aus dem Norden. Dieses Bild von Johannes Brahms hat sich lange gehalten, verfestigte sich zum Klischee. Und doch beschreibt es nur eine Seite dieser Komponistenpersönlichkeit. Es ist schon erstaunlich, wie hartnäckig sich ein einmal geprägtes Bild hält. Dabei müßten doch bereits das D-Dur Violinkonzert, die Liebesliederwalzer, die Klarinettensonaten mit ihrer Emotionalität, der Innigkeit des musikalischen Ausdrucks genügen, ein anderes Bild vom am 7 Mai 1833 in Hamburg geborenen und am 3. April 1897 in Wien gestorbenen Komponisten zu vermitteln. Wer sich nun das Vergnügen macht und das rechtzeitig zum 100. Todestag vom Henschel Verlag herausgebrachte Buch »Johannes Brahms. Ein Führer durch Leben und Werk« liest, wird es um wichtige Nuancen erweitern können. Hansjürgen Schaefer ist es hier gelungen, ohne auf sensationelle Neuinterpretationen aus zu sein, das differenzierte Bild einer Künstlerpersönlichkeit in einer von

gesellschaftlichen Umbrüchen bewegten Zeit zu zeichnen. Zahlreiche Zitate aus Briefen, die der Komponist schrieb oder von anderen erhielt, legen Zeugnis davon ab, mit welcher Anteilnahme Johannes Brahms das Zeitgeschehen verfolgte, mit welch menschlicher Wärme er Anteil an der Entwicklung von Künstlerkollegen nahm. Sein Engagement für Antonin Dvoräk steht exemplarisch dafür Aber auch die Wertschätzung, die er durch andere erfuhr, ist unaufdringlich beschrieben. Im Zentrum des Buches die innige Beziehung, die er zu Schumann und dessen Frau Clara zeitlebens hatte. Ausgehend von dem enthusiastischen Artikel, den Schumann über Brahms verfaßte: »Ich dachte, die Bahnen dieser Auserwählten mit der größten Teilnahme verfolgend, es würde und müsse (...) einmal plötzlich Einer erscheinen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen wäre, Einer, der uns die Meisterschaft nicht in stufenweiser Entfaltung brächte (...) Und er ist gekommen, ein junges Blut, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt: >Johannes Brahms<...«. In der Fül-

le heutiger Medieninformationen, die Wichtiges und Unwichtiges schwer unterscheidbar machen, kaum vorstellbar, wie solch ein Artikel, in einem Fachblatt veröffentlicht, den Erfolg eines jungen Komponisten befördern konnte. Aber war dieses Engagement Schumanns auf der einen Seite dem Bekanntwerden Brahms' förderlich, hat es doch dazu beigetragen, »daß aus dem fröhlichen der ernste Brahms wurde«.

Schaefer läßt den Leser teilhaben am Lebenslauf des Komponisten, an seinen Konzertreisen als gefeierter Pianist, an der von Höhen und Tiefen begleiteten »Liebesbeziehung« zu Clara Schumann, die jedoch nicht die einzige Frau war, die im Leben des Junggesellen Brahms eine Rolle spielte. Nachvollziehbar wird, wie Brahms sich institutionalisierten persönlichen wie gesellschaftlichen Bindungen immer wieder entzog, was auch immer der Grund gewesen sein mag: Angst vor damit verbundener Verantwortung? Die dem musikalischen Erbe gegenüber empfunde Verantwortung - Beethoven, Bach -jedoch nahm er konsequent wahr Als »Lordsiegelbewahrer« des Wiener

klassischen Erbes wird er häufig bezeichnet, sein eigenes Schaffen oft als dessen Nachklang apostrophiert. Arnold Schönberg schätzte es jedoch als Toröffner zur Modernität. Der junge Gustav Mahler, dem alten Brahms durchaus in Sympathie zugetan - »von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern!« - schrieb aber in einem Brief an Alma Mahler »Na, da

muß ich schon sagen, ein winziges Männchen ist es schon mit einer etwas schmalen Brust, Herrgott, wenn einen daneben so ein Sturmwind aus der Lunge Richard Wagners angeweht hat! Wie muß der Brahms mit seiner Armut haushalten, um auszukommen!«. Das erinnert an die oft heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Wagnerianern und der durch den einflußreichen Musikkritiker Hanslick angeführten Brahmspartei. Beide Komponisten galten zu Lebzeiten als Antipoden. Die Geschichte hat jedoch längst ihr Urteil gesprochen: Wagner ist für das Musiktheater so unverzichtbar wie Brahms für den Konzertsaal.

Das macht auch der zweite Teil des von Hansjürgen Schaefer herausgegebenen Buches deutlich. Werkbesprechungen, Analysen - unterstützt durch zahlreiche Notenbeispiele, eine Auswahl aus dem beinahe 400 Lieder und über 120 Instrumentalwerke umfassenden CEuvre - runden das Brahms-Bild. So hat man einen anregenden Führer durch Leben und Werk des Komponisten, dessen Musik zum festen Repertoire der Orchester gehört. Zu deren Aufführung es nicht erst erinnernder Geburts-oder Todestage bedarf.

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