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Berliner Erklärung ARBEIT FÜR ALLE!

  • Lesedauer: 4 Min.

Wir sehen mit Sorge, daß das alte und dennoch falsche Argument »Die Ausländer nehmen den Deutschen die Arbeit weg«, zur Erklärung der hohen Arbeitslosigkeit wieder an Salonfähigkeit gewinnt. Wir beobachten, daß nicht nur die extreme Rechte mit dieser Parole Menschen für ihre Politik zu mobilisieren versucht, die bisher für sie unerreichbar waren. Auch in der »Mitte der Gesellschaft« gewinnt die neue/alte Parole mit erschrekkender Geschwindigkeit an Akzeptanz.

Die Signale sind unüberhörbar: Da ist der Aufmarsch von Neonazis in München unter dem Motto »Deutsche Arbeit nur noch für deutsche Arbeiter«. Da hat eine Tageszeitung den Aufmacher »Als Deut-

Unterzeichnerinnen:

scher kriegst Du keinen Job«. Da ist der Vorschlag, »bei erheblichen Störungen am Arbeitsmarkt« räumlich begrenzte Arbeitsverbote für Migrantinnen auszusprechen. Da ist die offiziell ausgesprochene Befürchtung, daß demnächst auf Baustellen »Ausländer und Deutsche mit Latten aufeinander losgehen«.

Wir verurteilen alle Versuche, die mit der hohen Erwerbslosigkeit verbundenen berechtigten Zukunftsängste für eine Stimmung gegen unsere Mitbürgerinnen nichtdeutscher Herkunft zu benutzen.

Arbeit für alle ist unser gemeinsames und erreichbares Ziel und keine illusionäre Wunschvorstellung. Politische Alternativen zur jetzigen Massenerwerbslosigkeit liegen auf dem Tisch. Keine demo-

kratische Gesellschaft kann es sich auf Dauer leisten, Erwerbslosigkeit und ihre Folgen notdürftig zu alimentieren und gleichzeitig notwendige und sinnvolle Arbeit im sozialen, ökonomischen und kulturellen Bereich unerledigt zu lassen. Keine demokratische Gesellschaft kann auf Dauer auf die individuellen Fähigkeiten und die Kreativität von Millionen von Menschen - Frauen und Männern, Jungen und Alten, Menschen deutscher und nichtdeutscher Herkunft - verzichten. Keine Gesellschaft erträgt mehr als sechs Millionen Erwerbslose, ohne dauerhaften Schaden an ihrer Demokratie und ihrem sozialen Gefüge zu nehmen.

Die Parole »Deutsche Arbeit nur noch für Deutsche« bringt keinen

einzigen Arbeitsplatz. Die Arbeitsplätze werden uns auch nicht von ausländischen Arbeitnehmerinnen »weggenommen«. Bezahlte Arbeit in diesem Land wird immer weniger: Unternehmer rationalisieren, ganze Produktionsbereiche werden in andere Länder verlagert und die öffentlichen Kassen sind leer. Besonders betroffen sind An- und Ungelernte, unter ihnen viele ausländische Arbeitnehmerinnen.

Wir fordern gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Wir setzen uns gemeinsam für eine bessere Entlohnung bisher diskriminierter ausländischer Arbeitnehmerinnen und die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen ein.

Wir stellen fest:

Nur »Deutsche Arbeit« hat es in

Deutschland in der Mitte Europas nie gegeben. Frauen und Männer sind freiwillig hierhergezogen, um hier zu arbeiten und zu leben: z.B. aus Böhmen, aus Rußland, aus Polen, aus Holland, aus Frankreich und der Türkei.

Die Bundesrepublik Deutschland verdankt die Tatsache, daß sie eines der reichsten Länder der Welt ist, in erheblichem Maße den Zuwanderinnen, die hier Beiträge in die Kassen einzahlen, selbst Arbeits- und Ausbildungsplätze schaffen und unverzichtbarer Teil der heutigen Lebens- und Arbeitswelt sind. Sie leisten einen enormen Beitrag zum Bruttosozialprodukt, und erwirtschaften jährlich einen Überschuß von 30 Milliarden Mark an Steuern und Abgaben. Dennoch ist keine andere Bevölkerungsgruppe so wie die Migrantinnen und Migranten von der hohen Erwerbslosigkeit betroffen. In Berlin liegt ihre Arbeitslosenquote bei mittlerweile

über 30 %. Trotzdem sind sie in ihrer Arbeits- und Lebenssituation vielfach diskriminiert: in ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen und nicht nur auf den Baustellen unserer Stadt; bei der Inanspruchnahme von Leistungen der Arbeitsförderung; im öffentlichen Dienst, in dem sie nach wie vor unterrepräsentiert sind.

Unter sozialen, demokratischen aber auch ökonomischen Gesichtspunkten gibt es für uns keine andere Perspektive als die der vollen Integration der hier lebenden nichtdeutschen Berlinerinnen und Berliner. Das Recht auf Arbeit ist unteilbar-für Menschen deutscher und nichtdeutscher Herkunft, für alle auf Dauer hier Lebenden.

Wir rufen zu einer aktiven Solidarisierung mit den hier lebenden ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern auf.

Berlin, den 29. April 1997

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