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Gratwanderung für Khattami

Hohe Erwartungen an den neuen Präsidenten Von Thomas Ruttig

  • Lesedauer: 3 Min.

In Teheran hat am Sonntag Mohammad Khattami das Amt des Präsidenten von seinem Vorgänger Rafsandshani übernommen. Heute folgt die Zeremonie in der Madshles, dem iranischen Parlament. Für den Exkulturminister hatten überraschend 69 Prozent der Wähler gestimmt.

Ein guter Mensch zu sein, ist nicht genug«, sagte der namhafte iranische Schriftsteller Huschang Golschiri in einem Interview über Mohammad Khattami, den er aus dessen Amtszeit als Minister für Religiöse Führung hierzulande wäre das Kultusminister kennt. »Damals war er nicht stark genug. Er hat viel Macht an andere Leute delegiert und sie dann nicht mehr kontrolliert«. Gestern bestätigte Revolutionsführer Ayatollah All Khamenei, die Nummer Eins im Staate Iran, den 54jährigen Geistlichen Khattami in seinem Amt. Heute findet im Parlament von Teheran die Amtseinführung statt.

Gerade auf Khattamis Ruf als »Liberaler« setzten die fast 20 Millionen Iranerinnen und Iraner ihre Hoffnung, die Ende Mai bei den Präsidentschaftswahlen für ihn stimmten. Dabei sollen die Stimmen von Frauen und Jugendlichen den Ausschlag gegen den hohen Favoriten, Parlamentschef Ali Akbar Nateq Nuri, gegeben haben. Zwei Drittel der Iraner sind jünger als 25 Jahre, das Wahlalter beträgt 16 Jahre. Gerade diese Wählergrüppen erwarten nun, daß Khattami ihnen die ideologischen Gewichte abnimmt, die sie seit der islamischen Revolution 1979 tragen müssen - strikte BekleidungsVorschriften, Geschlechtertrennung und Verdrängung aus vielen Berufen und aus Führungspositionen bei den Frauen, die Ächtung der meisten Vergnügungen als westlich-dekadent bei den Jugendlichen. Aber auch die stärker werdende Schicht der Kapitalisten modernen Zuschnitts, die Iran zur Drehscheibe für Verkehr und Handel mit den neuen Märkten in den mittelasiatischen Ölstaaten machen wollen, stehen hinter Khattami. Sie kontrollieren den zu verschiedenen Stiftungen zusammengefaßten enteigneten Besitz des ehemaligen Schahs und führen ihn wie große Mischkonzerne. Sie wollen, daß Khattami die wirtschaftliche Liberalisierung seines Vorgängers Rafsandshani fortsetzt. Daß der damit auch die so-

ziale Spaltung weiter vertieft hat, wird mit dem Jubel über Khattamis Wahlsieg noch verdrängt.

Bei - offiziell - mehr als zehn Prozent Arbeitslosigkeit, wachsenden Auslandsschulden und stagnierenden Exporten im Nichtölbereich wird sich Khattami bald denselben Problemen gegenübersehen wie Rafsandshani. Will er Investitionen aus dem Westen anlocken, um den regelmäßigen Hungerrevolten in den verslumten Vorstädten wachsenden Wohlstand entgegenstellen zu können, wird er mit erheblichem Widerstand des konservativen Flügels der Geistlichkeit fertigwerden müssen. Ob er das kann, wird sich schon in wenigen Wochen zeigen, wenn er der Madshles seine Kabinettsmitglieder zur Bestätigung vorstellen muß. Bis heute können dort die Konservativen um Wahlverlierer Nateq Nuri eine Mehrheit mobilisieren. Zum ersten Mal seit Schahzeiten will Khattami, der gleichzeitig Regierungschef ist, zwei Frauen in Ministerämter holen. Eine hei-ße Kandidatin ist die Rafsandshani-Tochter Faizeh Haschemi. Doch möglicherweise wird Khattami gerade sie der Madshles opfern müssen, um andere wichtige Ämter nach seinen Vorstellungen besetzen zu können.

Faizeh Haschemi sagte gestern CNN, Khattami müsse bei jedem Schritt vorsichtig sein. Das gilt auch für das Verhältnis zu den USA, das er gern entspannen möchte. Auf seine Erklärung im Wahlkampf, der erste Schritt dazu müsse aus Washington kommen, reagierte Präsident Clinton bereits. In der Vorwoche gestattete er es US-Firmen entgegen dem offiziellen Wirtschaftsboykott, sich am Pipeline-Bau durch Iran zu beteiligen. Sollte Khattami nun aber wirklich den Chef der Besetzer der US-Botschaft in Teheran 1979, Mohammed Musawi Khoiniha, zum Geheimdienstchef machen, könnte erstem Tauwetter wieder Frost folgen.

Der Schriftsteller Golschiri, der sich trotz Repressalien lange weigerte, sein Land zu verlassen, arbeitet derzeit auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung im temporären Exil in der Bundesrepublik. Ob er und andere Kollegen demnächst wieder in ihr Land zurückkehren, wird nicht der schlechteste Gradmesser dafür sein, ob Khattami die an ihn gerichteten Erwartungen auch erfüllt.

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