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»Bravo, Krenz« und »Mörder, Mörder«

Hitzige Wortgefechte vorm Landgericht Von Wolfgang Hübner

  • Lesedauer: 3 Min.

Karl-Heinz Feeth hatte gestern seinen großen Auftritt. Der 48jährige Westberliner war zum Landgericht gekommen, um Egon Krenz, Günter Schabowski und Günther Kleiber die Meinung zu geigen. Lange vor Feeth standen etliche Leute am Zuschauereingang des Landgerichts. Vor allem Krenz-Sympathisanten wollten die Urteilsverkündung erleben. Der ganze Prozeß sei Unrecht, erklärte ein Mann aus der Warteschlange einem Fernsehreporter, denn die Angeklagten gehörten nicht vor ein bundesdeutsches, sondern höchstens vor ein internationales Gericht. Die deutschen Richter seien die Nachfolger des Nazistaates und hätten deshalb kein Recht, über DDR-Politiker zu urteilen, verkündete der Mann, und das sage er nicht als Kommunist, sondern als Christ.

»Hast du mal in Bautzen gesessen?« wurde er gefragt, und dann trat zum erstenmal Karl-Heinz Feeth in Aktion. Krenz und die anderen seien Verbrecher, »denn mein Freund, der war damals 15, ein lieber, guter Junge, der wurde 1963 von SED-Leuten an der Mauer erschossen, und daran sind die schuld. Lebenslänglich sollen die kriegen«, plädierte Feeth. Dann mußte er unterbrechen, denn er hatte Kleiber entdeckt. »Mörder,

Mörder!«, skandierte Feeth einsam und allein.

»Dreckskerl«, rief ihm ein DKP-Mann zu, und Feeth entgegnete »Dreckskommunist«. Derweil bemerkte ein alter Mann, daß schließlich auch über 20 DDR-Grenzsoldaten erschossen wurden. »Viel zuwenig«, sagte jemand, und ein anderer fügte hinzu: »Solche wie du sollten 500 Mark Rente kriegen.« Zahlreiche Kameraleuten filmten alles penibel; jeder, der ein lautes Wort sagte, wurde sofort interviewt. Auch ein Mann, der aus einer Plastetüte Zeitungsausschnitte zog: »Da steht was übers Sparpaket drin, da steht was über Obdachlose. Das schreiben offizielle Presseorgane, und hier wird Krenz wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt.«

Inzwischen nahte Krenz. Feeth hatte bereits Aufstellung genommen und brüllte wieder »Mörder!« Sein Nachbar wollte noch besser sein und schrie »Massenmörder!« und schließlich sogar »Kopf ab!« Sofort war Krenz von kämpfenden Kameraleuten und Fotografen umringt. Blitzlichtgeräte brachen ab, Objektive splitterten, Kamerateile fielen zu Boden. Als das Gewoge die Warteschlange am Zuschauereingang erreichte, ertönten Bravorufe. »Bravo, Krenz!« rief der eine Chor, während der andere versuchte, ihn mit »Mörder!« zu übertönen.

Während Feeth eine letzte Verwünschung in Richtung Krenz schickte, erklärte der DKP-Funktionär einigen Umstehenden, daß es keinen Zweck habe, mit solchen Leuten zu diskutieren, »weil das alles bestellte Provokateure sind. Das wird hier fürs Fernsehen inszeniert, man weiß doch, wie sowas gemacht wird.«

Inzwischen war ein neuer Agitator eingetroffen, diesmal von der anderen Seite. Der Pseudonazistaat Bundesrepublik habe kein Recht, über DDR-Bürger zu richten, schrie er. »Wo ist das Leder, das in der DDR aus der Haut von Juden gemacht worden wäre?«, brüllte er mit überschnappender Stimme und drosch dabei mit der Faust auf einen Müllbehälter. Die Leute in der Warteschlange schüttelten teils belustigt, teils irritiert den Kopf.

Im Schatten der Aufregung gelangte Schabowski fast unbemerkt zum Gerichtsgebäude. Feeth allerdings hatte ihn erspäht. »Ah, der Maueröffner!« rief er, aber es klang alles andere als freundlich. Schabowski wurde indessen an der Tür von einem älteren Mann zur Rede gestellt: »Warum bist du umgefallen?« - »Ich hei-ße nicht du«, knurrte Schabowski unwillig, doch der Mann ließ nicht locker: »Warum bist du umgefallen?« Da reichte es Schabowski: »Du solltest nicht mir, sondern dir Fragen stellen, auch aus Anlaß dieses Prozesses.« Dann ging Schabowski hinein, und sein Kontrahent wurde sofort von Journalisten befragt.

Feeth lauschte einen Moment, dann sagte er »Jetzt üben sie wieder ihr Parteisächsisch« und schritt von dannen. Er hatte es ihnen gegeben. »Hier rennen Typen rum«, sagte ein Fernsehreporter zu seinem Kameramann. Der meinte: »Aber wir haben geile Bilder «

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